Kult–Tour: Deutschland
«Cinema» von Holger Czukay
Die Klänge eines Kurzwellen-Junkies: Das ist «Cinema» von Holger Czukay.
Zuvor hatte man so etwas noch nie gehört: Eine kurze Sequenz eines mittelalterlichen Chores, der zur Schlaufe gebunden, sich unendlich wiederholt und über den in der Folge vietnamesische Volksgesänge gelegt werden: Eine Klangcollage in stundenlanger Handarbeit zusammengeklebt und zu einer hypnotischen 20-minütigen Hymne verdichtet. Holger Czukay hat diesen «Boat Woman Song» 1969 erschaffen mit musikalischen Elementen, die er aus dem reichen Fundus eines Kurzwellenradios «gefischt» hatte. Kurz zuvor war der 1938 als Holger Schüring in Danzig Geborene noch Assistent von Karlheinz Stockhausen gewesen, bevor er dann gemeinsam mit Irmin Schmidt, Michael Karoli und Jaki Liebezeit die Gruppe Can gründete, die wie kaum eine andere deutsche Band mit Ausnahme von Kraftwerk die populäre Musik nachhaltig beeinflusste.
Czukay und seine Kollegen übten sich in endlosen Gruppenimprovisationen, angetrieben von Schlagzeuger Liebezeit und Bassist Czukay, und hoben damit sämtliche in Rock, Pop und Jazz festgefahrenen Strukturen aus ihren Sockeln. Brian Eno hat sich von Czukay und seiner Sampling-Technik beeinflussen lassen und später gemeinsam mit David Bowie die legendäre Berlin-Trilogie eingespielt, die ohne die Vorarbeit von Can so wohl nie entstanden wäre.
Czukay verliess Can 1974, um seine kreative Chaostheorie in neue Bahnen zu lenken. Seine Soloalben sind prall gefüllt mit humoristischer Tanzmusik, die sich vom kunterbunten Spektrum der Kurzwelle ebenso inspirieren liessen wie von der anarchistischen Grundhaltung ihres Schöpfers. Doch das war längst nicht alles: Mit seinem langjährigen Freund, dem Produzenten Conny Plank, erschuf er als Les Vampyrettes apokalyptische Klangarchitekturen, mit Can-Kumpel Liebezeit und dem britischen Bassisten Jah Wobble generierte er Töne, die den Trip-Hop vorweg nahmen.
Aus Anlass seines 80. Geburtstages am 24. März 2018 erschien nun «Cinema» (5 CDs oder 6 LPs plus DVD): eine äusserst sorgfältig kuratierte Werkschau, die die ganze Bandbreite dieses unermüdlichen Tausendsassas noch einmal in allen schillernden Farben widerspiegelt. Was als Geburtstagsgeschenk an einen der einflussreichsten Künstler der letzten Jahrzehnte gedacht war, wurde zur posthumen Retrospektive: Holger Czukay wurde am 5. September 2017 tot in seinem Studio aufgefunden.
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Holger Czukay. «Cinema» (Grönland Records)
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