19. Oktober 2017

«Willkommen in der Schweiz» – Interview mit Regisseurin Sabine Gisiger

«Man muss allen Seiten vorbehaltlos zuhören können»

Ein Schweizer Dorf verweigert sich Asylsuchenden. Diesem polarisierenden Thema setzt Sabine Gisiger mit dem Dokumentarfilm «Willkommen in der Schweiz» ein konstruktives Plädoyer gegenüber. Ein Gespräch mit der Zürcher Regisseurin über eine Herausforderung, die uns allen etwas abverlangt.

Interview: Rudolf Amstutz
Pragmatisch und engagiert: die Aargauer Regierungsrätin Susanne Hochuli (Zweite von rechts) – Szene aus «Willkommen in der Schweiz. Bild: © filmcoopi

2015 weigerte sich das kleine Dorf Oberwil-Lieli im Kanton Aargau zehn Asylsuchende aufzunehmen. Davon erzählt Sabine Gisigers («Gambit», «Yalom’s Cure») neuer Dokumentarfilm «Willkommen in der Schweiz». Es ist ein Stoff, der geradezu einlädt, einen polarisierenden Standpunkt einzunehmen. Doch Gisiger macht genau das Gegenteil und tut etwas, was immer öfter von den Medien sträflich vernachlässigt wird: Sie setzt die Gegenwart in einen historischen Kontext und erzählt in fünf Akten von der langen humanistischen Tradition der Schweiz, die während des Zweiten Weltkrieges und 1970 mit der Schwarzenbach-Initiative immer wieder auf eine harte Probe gestellt wurde. Derweil lässt sie die drei Hauptprotagonisten im Fall Oberwil-Lieli ohne Einmischung ihrerseits zu Wort kommen: Andreas Glarner, SVP-Nationalrat und damaliger Gemeindepräsident, der unser Land von aussen bedroht sieht; Johanna Gündel, die engagierte Bürgerin mit Gerechtigkeitssinn, die sich ihm entgegenstellt; und Susanne Hochuli, Regierungsrätin, die dem Konflikt mit Pragmatismus entgegentritt. Sabine Gisiger schafft das Kunststück ihre Solidarität mit Menschen in der Not auszudrücken, ohne die Gegenseite blosszustellen. «Willkommen in der Schweiz» ist deshalb ein eindrückliches Plädoyer für eine konstruktive Auseinandersetzung mit einem Thema, das uns auch in Zukunft beschäftigen wird.

 

Das Interview mit Sabine Gisiger fand am 26. September 2017 in Bern statt.

Sabine Gisiger, in «Willkommen in der Schweiz» erzählen Sie die Geschichte von Oberwil-Lieli. Der damalige Gemeindepräsident Andreas Glarner weigerte sich vor zwei Jahren zehn Flüchtlinge aufzunehmen, die ihm vom Kanton Aargau zugeteilt wurden. Was gab den Ausschlag, darüber einen Film zu machen?

Die Flüchtlingskrise weckte in mir schon zuvor das Bedürfnis, mich einzumischen. Die erschütternden Bilder von Tausenden von Flüchtlingen auf der Balkanroute, wo man sich unweigerlich die Frage stellt: Wie verzweifelt müssen Menschen sein, um sich solchen Strapazen auszusetzen? Als ich meiner Produzentin Karin Koch erzählte, wie mich dieses menschliche Elend und die Häme darüber im Internet betroffen machen würden, riet sie mir: «Engagiere Dich mit dem, was Du kannst. Mach einen Film darüber!» Nur wusste ich lange nicht, wo ich thematisch ansetzen wollte. Das wurde mir erst klar, als ich dann im deutschen Fernsehen den Bericht über Oberwil-Lieli sah.

Sie porträtieren im Film drei Personen, die jeweils eine andere Perspektive repräsentieren.

Die drei haben sich automatisch aus der Geschichte ergeben. Zuerst ging ich zum damaligen Gemeindepräsidenten und SVP-Nationalrat Andreas Glarner. Ich sagte ihm, dass ich einen Film machen möchte, weil ich persönlich nicht nachvollziehen könne, wie er denke und weil ich verfolgen möchte, wie diese Geschichte im Dorf weitergehe. Er war sofort damit einverstanden. An der ersten Gemeindeversammlung, an der wir drehten, ergriff dann Johanna Gündel das Wort. Und weil Glarner permanent gegen die zuständige Regierungsrätin des Kantons wetterte, kam Susanne Hochuli dazu. Sie war es, die vom Bund die Flüchtlinge zugeteilt erhielt und diese wiederum auf die kantonalen Gemeinden verteilen musste. 

Ihr humanitäres Gewissen war der Anlass, diesen Film zu machen. Doch in Ihrer Rolle als Journalistin stehen Sie in der Pflicht, das Ganze nicht tendenziös zu schildern, da man ansonsten Gefahr läuft, nur Menschen zu erreichen, die sowieso schon von der Botschaft überzeugt sind.

Das ist genau der Punkt. Welche Haltung nehme ich als Filmemacherin ein? Ich habe zu Beginn beschlossen, zu allen Personen die selbe Distanz zu wahren, ihnen die selben Fragen zu stellen, stets aufmerksam zuzuhören, um dann am Ende die Essenz der jeweiligen Haltungen darstellen zu können. Zugegeben fiel mir dies bei Johanna Gündel leichter, auch weil mich diese junge engagierte Frau an meine eigene Tochter erinnert. Doch meine Position gegenüber Andreas Glarner war exakt dieselbe. Gerade bei einem polarisierenden Thema wie diesem ist es ungemein wichtig, allen Seiten ohne Vorbehalte zuzuhören.

Der Film verzichtet auf eine Off-Stimme. Der geschilderte Sachverhalt wird einzig durch das Auftreten von Chören unterbrochen. Etwas, das im Theater der Antike gang und gäbe war.

Die Chöre dienen dazu, eine andere Seite des Betrachters anzusprechen. Aristoteles hat gesagt, das Theater müsse der Katharsis, der Läuterung, dienen. Und ich dachte, das ist genau das, was wir brauchen. Der Chor unterbricht die Handlung und gibt uns Raum, die eigenen Gefühle und Gedanken zu ordnen. Deshalb habe ich das griechische Konzept mit den fünf Akten übernommen: Auftrittschor, Exodus und der gesangliche Einschub zwischen den jeweiligen Akten. Der Film folgt also einer strengen Form. 

Im Film wird einmal von rechter Seite das Argument vorgetragen, dass wenn einer im Besitze eines iPhone sei, könne es sich dabei wohl kaum um einen Asylbewerber handeln.

Das gehört zur Taktik der rechten Seite, dass sie in solchen Diskussionen immer Aspekte einfliessen lassen, die empören, Angst machen oder abschrecken sollen. Neulich mussten wir im Kanton Zürich darüber abstimmen, ob man den vorläufig aufgenommenen Menschen die Sozialhilfe streichen soll. Der Antrag wurde angenommen, obwohl Berechnungen ergaben, dass wir pro Stimmbürger 6 Franken 70 im Jahr sparen. Das selbe Stimmvolk hat vor ein paar Jahren diese Sozialhilfe noch gutgeheissen. Was ist in der Zwischenzeit geschehen, dass wir pro Jahr einen Betrag, der etwa einem Latte macchiato entspricht, nicht mehr aufwerfen wollen und dadurch Hilfe suchende Menschen unter das Existenzminimum treiben?

Der Rechtspopulismus lebt von den Ängsten der Menschen – auf dem Land mehr als in den Städten.

Das unterstreicht jede Statistik. Die Ausländerfeindlichkeit ist dort am höchsten, wo es am wenigsten Ausländer hat. In der Stadt begegnet man Fremden zwangsläufig und entdeckt dabei die Menschen dahinter. Wenn man die Möglichkeit zum Kennenlernen erhält, dann schwindet automatisch das Gefühl der Bedrohung.

Andreas Glarner profitierte damals von der Verweigerung und ist mittlerweile in Ausländerfragen die erste Stimme der SVP auf nationaler Ebene. Im Film behauptet er, dass in wenigen Jahren sowohl Frankreich wie Deutschland muslimisch regiert sein werden. Glauben Rechtspopulisten dies tatsächlich oder sind solche Behauptungen bloss Mittel zum Zweck?

Ich habe mir diese Frage oft gestellt und ich weiss die Antwort nicht. Vielleicht ist es Propaganda, vielleicht echte Überzeugung. Oder sie sprechen solange darüber, bis sie daran glauben und sich daraus eine Art Paranoia entwickelt. Ich habe gegenüber Andreas Glarner mal erwähnt, dass ich sein Weltbild pessimistisch fände. Das konnte er überhaupt nicht nachvollziehen. Er bezeichnet sich als Optimist, obwohl er meist nichts anderes tut, als die Bedrohungslage zu beschreiben.

Weshalb fühlen sich so viele Menschen durch den Rechtspopulismus angesprochen?

In ganz Europa inklusive der Schweiz findet der Rechtspopulismus bei rund 30 Prozent der Menschen Zuspruch. Das ist immer noch eine Minderheit. Auf der einen Seite ist sicherlich die Verunsicherung in einer globalisierten Welt dafür verantwortlich. Vielleicht gibt es aber auch einfach Zyklen, in denen diese Art von Haltung salonfähiger wird. Es kann gut sein, dass es diese 30 Prozent immer gegeben hat, nur leben wir jetzt in einer Zeit, in der man wieder dazu stehen kann. Zudem haben die Menschen heute die technischen Möglichkeiten, ihre Meinung öffentlich kund zu tun.

Die Rolle der Medien spielt dabei auch eine Rolle. Im Film bezeichnet Glarner die Schweizer Tageszeitung «Tagesanzeiger» als linkes Kampfblatt. Der Angriff auf die traditionellen Medien zeitigt Wirkung. Viele wählen die Flüchtlingsproblematik oft so, als wollten sie der rechten Seite klarmachen: Seht her, wir sind nicht links, wir nehmen das Thema ernst.

Genau. Wie reagieren die Medien auf diesen Druck von rechts? Passen sie sich an, um beweisen zu wollen, dass sie keine sogenannte «Lügenpresse» sind? Das ist heikel. Gleichzeitig muss man auch die positiven Auswirkungen erwähnen. Der investigative Journalismus feiert ein Comeback. Ich hatte zuvor nie ein Abonnement der New York Times, doch nun habe ich eines. Ich brauche dies für den Erhalt meiner psychischen Gesundheit (lacht). Es tut gut, eine Stimme aus Amerika zu lesen, die das Ganze hinterfragt, relativiert und kommentiert.

Wenn wir schon bei den positiven Punkten sind. Als Gegenpol zu den bedrohlichen Äusserungen dient die Szene im Film, in der sich Susanne Hochuli an einem Stammtisch in der Dorfbeiz mit Männern unterhält, die allesamt der Integrationshilfe positiv gegenüberstehen.

Die Szene zeigt, dass der Staat alleine eine erfolgreiche Integration nicht bewerkstelligen kann. Wir alle sind gefragt. Ich etwa unterrichte manchmal 25 jungen Asylsuchenden Geschichte an der Freiwilligenschule welcome2school in Zürich. Das ist eine wunderbare Aufgabe, weil dabei auch sehr viel von diesen Menschen zurückkommt. Fazit ist: Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir alle ein ganz klein wenig mit anderen teilen müssen. Jeder, der in der Lage ist, sollte sich auf irgendeine Weise engagieren.

Sie sind also optimistisch, was die Zukunft der Schweiz betrifft?

Oh ja. Ich habe in meiner Arbeit zahlreiche junge Menschen getroffen, die – wie Johanna Gündel im Film – nicht diese reduit-durchdrungene Haltung einnehmen. Sie sind der Meinung, dass Menschen, die in unserem Land leben und arbeiten und so ihren Teil zur Gesellschaft beitragen, Teil dieses Landes sind und nicht nur jene, die durch die Gnade der Geburt hier sind. Wir haben die besten Voraussetzungen, um ein offenes Land zu werden. Es gibt viel Geld, viel Know how und viele gute Menschen. Vielleicht stirbt mit meiner Generation auch das Bild einer idyllischen Schweiz, die es so nie gegeben hat. Es war ja früher nicht alles besser. Es war einfach anders. 

 

#-#SMALL#-##-#QUOTE#-#Sabine Gisiger – zur Person#-#QUOTE#-##-#SMALL#-#

#-#SMALL#-#Sabine Gisiger (*1959) studierte Geschichte in Zürich und Pisa und schloss das Studium 1988 mit einer Dissertation über die Geschichte der Dienstmädchen ab. 1989 liess sie sich am Schweizer Fernsehen zur Fernsehjournalistin ausbilden und arbeitete danach viele Jahre als Reporterin im In- und Ausland. Seit 1990 realisiert Sabine Gisiger als freie Filmschaffende Dokumentarfilme. 2000 erregte ihr Dokumentarfilm «Do It», den sie gemeinsam mit Marcel Zwingli drehte, internationales Aufsehen und erhielt 2001 den Filmpreis für den besten Schweizer Dokumentarfilm. Mit den Kinofilmen «Gambit», «Guru» und «Yalom’s Cure», alle für den Schweizer Filmpreis nominiert, hatte sie weitere internationale Erfolge. 2015 war sie mit «Yalom’s Cure» und «Dürrenmatt - eine Liebesgeschichte» gleich mit zwei Filmen unter den Top Ten der Schweizer Kinocharts. Seit 2002 unterrichtet sie als Dozentin für Dokumentarfilm an der Zürcher Hochschule der Künste (Masterklasse), und an der Hochschule Luzern – Design & Kunst. 2012-2015 war Sabine Gisiger Mitglied der eidgenössischen Filmkommission. Sie ist Mitglied der Schweizer Filmakademie und der Europäischen Filmakademie. #-#SMALL#-#

 

#-#IMG2#-##-#SMALL#-#Willkommen in der Schweiz. Schweiz 2017. Drehbuch und Regie: Sabine Gisiger. Kamera: Helena Vagnieres. Musik: Balz Bachmann. 83 Minuten. Mit: Andreas Glarner, Johanna Gündel, Susanne Hochuli, Der Intergalaktische Chor, Das Mechaje Ensemble u.a.

Trailer »

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