5. September 2015

«Die Demokratie ist los!» – Interview mit Regisseur Thomas Isler

«Eigentlich müssten bei jedem Liberalen die Alarmglocken läuten»

In «Die Demokratie ist los!», Gewinner des 3. CH-Dokfilm-Wettbewerbs des Migros-Kulturprozent, zeigt Thomas Isler auf, dass auch die bestmögliche aller Staatsformen Schwächen hat. Ein Gespräch mit dem Schweizer Filmemacher über die Bedrohung des Rechtstaates, die Unverhandelbarkeit von Grundrechten und die Ohnmacht der Mitte.

Interview: Rudolf Amstutz
Die Verfassung als Dauerbaustelle: Abgabe der Unterschriften für die Durchsetzungsinitiative der Schweizerischen Volkspartei SVP. Bild: © Thomas Isler
Flüchtlingsströme, drohende Überfremdung: die rechten Kräfte in Europa haben Aufwind und nutzen die Ängste der Bürgerinnen und Bürger, um daraus politisches Kapital zu schlagen. In der Schweiz kommen zunehmend Volksabstimmungsinitiativen zustande, die mit den Grund- und Menschenrechten nicht vereinbar sind. Thomas Isler ortet in seinem Dokumentarfilm «Die Demokratie ist los!» dringenden Handlungsbedarf und provoziert mit Fragen wie «Hat das Volk immer recht?» oder «Sind Volksentscheide wichtiger als Menschenrechte?». Isler hat sich auf Spurensuche gemacht, hat Politikerinnen und Politiker von links bis rechts befragt und sich im benachbarten Ausland umgehört. Das Resultat ist eine lustvolle Collage aus Begegnungen und analytischen Betrachtungen, die in ihrer Summe zum dringenden Nachdenken über den Zustand der direkten Demokratie anregen.

Thomas Isler, ist die Demokratie in Gefahr?

Der Begriff Demokratie ist zutiefst verbunden mit dem Schutz von Minderheiten. Auch wenn der Mehrheitsentscheid in einer Demokratie gilt, darf die Minderheit nie diskriminiert werden. Ansonsten haben wir eine Diktatur der Mehrheit. Mit der Durchsetzungs- und Ausschaffungsinitiative wird unser Rechtsstaat in Frage gestellt. Wenn also die Agenda der rechten Kräfte weiterhin Erfolg haben sollte – die Einschränkung der Grundrechte oder die Kündigung der Menschenrechtskonvention – dann werden wir irgendwann an einen Punkt gelangen, bei dem die Demokratie tatsächlich in Gefahr ist.

Die Demokratie ist als Staatsform ein fragiles Gebilde. Als Bürgerin und Bürger hat man nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Doch Letztere werden von der Mehrheit gar nicht mehr wahrgenommen.

In den letzten 20 Jahren ist eine meines Erachtens gefährliche Entwicklung zu beobachten. Die Volksrechte werden zunehmend mystifiziert. Demokratie ist die beste aller Staatsformen und im Idealfall ist sie auch noch eine direkte Demokratie wie wir sie kennen. Aber diese funktioniert nur, wenn auch die Pflichten wahrgenommen werden. Kommt hinzu, dass im Falle der Ausschaffungsinitiative jene, die es betrifft, gar nicht mitreden dürfen. Pflicht würde eben auch heissen, alle mit ins Boot zu holen. Verheerend ist zudem auch die vorherrschende Überzeugung, dass ein Volksentscheid immer ein abschliessendes Verdikt darstellt. Das war früher nicht so und war auch nicht so gedacht. Ein Volksentscheid war immer Teil eines Prozesses. Heute wird aus Angst, man könnte undemokratisch erscheinen, alles wortwörtlich genommen – selbst dann, wenn die Initianten einen schludderigen, unüberlegten Gesetzestext vorlegen.

Gerade bei der Masseneinwanderungsinitiative wurde mehrheitlich emotional und nicht sachlich debattiert. 

Der Wettkampf um die grösstmögliche Aufmerksamkeit wird heute fast ausschliesslich mit Hilfe von Emotionen ausgetragen. Natürlich ist Politik auch emotional, aber der analytische Teil sollte dabei nicht vergessen gehen. In dieser Hinsicht haben auch die Medien in einem grösseren Umfang versagt. Man bewirtschaftet ein Feld, ohne dem politischen Sachverhalt zu zudienen. Wir müssen uns in der Schweiz wieder bewusst werden, dass unser System nicht perfekt ist, weil so etwas wie ein perfektes System gar nicht existiert. Unsere Verfassung ist eine Dauerbaustelle, an der unentwegt herumgebastelt wird. In einer Welt, in der die Auseinandersetzungen immer emotionaler werden und die Medien dabei als Verstärker fungieren, braucht es zwingend einen Regulator. Das ist auch der Hauptgrund, weshalb ich diesen Film gemacht habe. Ich möchte, dass man darüber nachdenkt, wie man in Zukunft die Macht regulieren kann. Es braucht die Wiederherstellung eines Gleichgewichtes. 

In anderen Ländern sorgen Intellektuelle für den konstanten Denkanstoss und das stete Hinterfragen der Machtstrukturen.

In der Schweiz haben wir die auch. Die Frage ist, wer ihnen überhaupt zuhört. In der Schweiz herrscht traditionell ein grosses Misstrauen gegenüber Intellektuellen. 

Früher hatten wir Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt.

Das waren Ausnahmeerscheinungen, aber auch diese beiden machten nicht nur gute Erfahrungen mit ihren Wortmeldungen. In der Schweiz herrscht ein tiefes Misstrauen gegen die Eliten. In Wirklichkeit ist das absurd, weil jene, die dieses Misstrauen gegen die Elite schüren, selbst Teil dieser Elite sind. Die SVP ist ja ein unglaublich elitärer Verein. Dass aber eine Demokratie den Intellektuellen nicht über den Weg traut, kommt ihr alles andere als entgegen. Oft müssen wir uns bei Abstimmungen mit hochkomplexen Dingen beschäftigen, und damit sind wir als normale Bürgerinnen und Bürger oft überfordert. Schon alleine deshalb wäre eine analytisch funktionierende Elite, die anders denkt als die Politiker, hilfreich. Für den Politiker geht es letztlich ja nur darum, dem Volk, dem Souverän zu huldigen. Der Intellektuelle dagegen würde sich vielleicht auch mal erlauben, das Volk zu hinterfragen. Und so etwas ist bei uns undenkbar.

Im Film kommt ein deutscher Politiker zu Wort, und zwar Arno Nelles, Bürgermeister von Würselen, und der sagt folgendes zur direkten Demokratie: «Wenn ich mir manchmal die eine oder andere Stammtischmeinung anhöre, dann frage ich mich, ob die Volksabstimmung der richtige Weg wäre.»

Der Souverän ist eine heilige Kuh, ein solches Statement dürfte sich ein Schweizer Politiker nie erlauben. Was Arno Nelles allerdings nicht erwähnt: In Deutschland existiert im Gegensatz zur Schweiz ein Verfassungsgericht, das solche diskriminierenden Vorlagen, wie wir sie etwa mit der Durchsetzungsinitiative kennen, niemals zur Abstimmung zulassen würde. Damit wäre Deutschland eigentlich besser gerüstet für die direkte Demokratie als die Schweiz.

Das fehlende Verfassungsgericht als Makel des Schweizer Systems? Man schickt ja auch nicht 22 Fussballer auf den Platz und vergisst den Schiedsrichter.

Genau. Eigentlich hat man in der Schweiz auf diese Instanz verzichtet, weil man so die Opposition schützen wollte. Man wollte den Kräften, die nicht im Parlament sind eine Form von Gestaltungsmöglichkeit in die Hand geben und diese dann nicht wieder durch ein Gericht gefährdet sehen. Aber die Debatte ist weiterhin aktuell und wird auch durch juristische Fachleute immer wieder hochgehalten. An einer Podiumsdiskussion vertrat der SP-Politiker Cédric Wermuth die Position: Verfassungsgericht ja, aber nur in Fragen der Grund- und Menschenrechte. Ich denke, das wäre ein guter Ansatz, weil diese Rechte in einer Demokratie unverhandelbar sein sollten.

Diese Unverhandelbarkeit müsste eigentlich für alle nachvollziehbar sein.

Ja und deshalb bin ich auch so von der politischen Mitte enttäuscht. Es ist einfach über Ausländer herzuziehen, weil die sich politisch nicht wehren können. Aber wenn unser Rechtsstaat durch Initiativen plötzlich Automatismen eingebaut bekommt, dann wird's prekär. Wer sagt denn, dass es bei Gesetzen gegen Ausländer bleibt? Man könnte auch einen Teil der Schweizer Bevölkerung auf diese Weise diskriminieren. Und ich bin völlig irritiert, dass das Bürgertum dagegen keinen Widerstand leistet.

Im Film begründet der FDP-Nationalrat Kurt Fluri seinen Entscheid, die Ausschaffungsinitiative für gültig zu erklären, mit der Furcht, man könnte ihm vorwerfen, er hätte sich mit den Linken verbündet. Da fehlt jegliche substanzielle Argumentation.

Obwohl gerade Fluri ein grosser Verfechter des Rechtstaates ist. Aber diese Haltung ist ja nicht auf seinem Mist gewachsen. Die politische Mitte hat ihr Rückgrat verloren. Sie verteidigen nicht einmal mehr ihre eigenen Werte. Der Rechtsstaat ist keine linke, sondern eine zutiefst bürgerliche Erfindung. Deshalb müssten eigentlich bei jedem Liberalen die Alarmglocken läuten. 

Wenn man den rechten Kräften den eigenen Platz überlässt, droht eine Wiederholung der Geschichte.

Es ist tatsächlich so, dass die rechtspopulistischen Kräfte in ganz Europa ein Problem darstellen, aber ich weigere mich trotzdem Schwarz zu malen. In Deutschland etwa existiert eine enorm starke zivilgesellschaftliche Kraft, die unentwegt gegen diese Tendenzen Stellung bezieht. Es gibt eine Szene im Film, die dies wunderbar beleuchtet, wo zwei deutsche Hausfrauen neugierig auf den ersten Ruf eines Muezzins warten. Sie stehen dem Unbekannten völlig offen und positiv gegenüber.

Wir sind bequem geworden. Eine Haltung zu demonstrieren benötigt auch Energie.

Wir Schweizer haben uns an diese permanente «Dehumanisierung» des Gegners gewöhnt. Da ist eine Dumpfheit spürbar. Das Wort «Ausschaffungsinitiative» als Begriff können die Leute in Deutschland gar nicht fassen. Das ist eine Verluderung der Sprache und der Symbole, und zwar durch die wählerstärkste Partei des Landes, die auch noch in der Regierung sitzt. Natürlich operieren auch der Front National in Frankreich oder die FPÖ in Österreich auf ähnliche Weise, aber die haben in ihrer Heimat nicht oder nicht mehr eine staatstragende Funktion. Und wir als Gesellschaft haben uns an diese Art von Sprache und Verunglimpfung gewöhnt.

Das erinnert an die Taktik der Tea Party in den USA. Auch dort werden aus parteipolitischen Gründen Andersdenkende und staatliche Institutionen permanent verunglimpft.

Ja, und diese Tendenz lässt sich gerade in der Asyl- und Ausländerpolitik auch bei uns immer mehr feststellen. Das Verrückte daran ist eben, dass die schweigende Mehrheit dies einfach so hinnimmt.

Es braucht Leute, die hinstehen und sagen: Genug ist genug.

Die gibt es ja. Aber auch hier stellt sich die Frage, wer denn überhaupt hinhört. Und einmal mehr spielen die Medien eine gewichtige Rolle. Da könnten sie ihre Rolle als vierte Gewalt im Staat wahrnehmen und diese Empörungskultur von sich weisen. Aber dieses Korrektiv fehlt. Kommt hinzu, dass sich heute die meisten Menschen mit Hilfe von kostenlosen Pendlerzeitungen informieren, und die leben ja von dieser Empörung. Letztlich müssen alle Medien Leserschaft oder Publikum generieren. Auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen, das aus kommerziellen Gründen zu einem Unterhaltungssender geworden ist, scheint nicht mehr gewillt, den grossen politischen Diskurs zu führen.

Zu Ihrem Film existiert ausführliches Schulmaterial. Was können Schülerinnen und Schülern durch ihren Film lernen? 

Ich hoffe, dass mein Film für junge Menschen, die in naher Zukunft stimm- und wahlberechtigt sein werden, als Einstieg in ein bewusstes politisches Leben dienen kann. Und dass sie begreifen, dass die direkte Demokratie als Staatsform viel komplexer und fragiler ist, als man es sich vorstellt oder die Politiker einem weismachen wollen. Eine eigentlich banale Einsicht, die aber auch mir erst wieder so richtig während der Arbeit zum Film klar geworden ist. Man denke da nur an die wichtige Rolle, die das Parlament in unserer Demokratie spielt. Ich denke, der Film macht Lust auf Politik, obwohl seine Botschaft sehr ernst ist: Dass nämlich der Rechtsstaat fundamental ist für jeden einzelnen Bürger und für das Zusammenleben in einem Land.

Wenn Sie nun zurückblicken auf die Arbeit an «Die Demokratie ist los!», gab es da Erlebnisse, die sie positiv oder negativ überrascht haben?

Eine Bereicherung waren die vielen Begegnungen mit positiv gestimmten Menschen. Egal ob hier in der Schweiz oder bei unseren Nachbarn. Menschen, die offen gegenüber dem Fremden sind. Menschen, die ihre Zeit opfern, um Unterschriften zu sammeln. Ich gebe zu, ich ging mit einer gewissen Empörung über den Zustand unserer politischen Landschaft in dieses Projekt und bin immer noch schockiert, wie mit simplen Rezepten und brachialer Rhetorik gegen unseren Rechtsstaat vorgegangen wird. Doch letztlich bringt Empörung nichts. Im Gegenteil: Wir alle sollten darüber nachdenken über die Dinge, die da geschehen und wie wir unsere direkte Demokratie verbessern können. Ansonsten – und da komme ich auf Ihre Eingangsfrage zurück – ist die Demokratie in der Tat in Gefahr.

#-#SMALL#-#Zur Person:#-#SMALL#-#
#-#SMALL#-#Thomas Isler wurde 1967 in Basel geboren. Studium an der Hochschule für Gestaltung und Künste Zürich (HGKZ). Später Kamerassistent bei Pio Corradi und Matthias Kälin sowie Editor von Esen Isik. Mitarbeit am Projekt Atelier Zérodeux an der Expo 02. Seit 2007 Hauptdozent an der Zürcher Kunstschule F+F. Zu seinen Regiearbeiten gehören unter anderen «Das Cello» (2001), «Wanakam» (2004), «Marchand d’art – Ernst Beyeler» (2007) und «Wir kamen um zu helfen» (2013).#-#SMALL#-#
#-#SMALL#-#Website Thomas Isler »#-#SMALL#-#

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#-#SMALL#-#Die Demokratie ist los! Schweiz 2015. 84 Minuten. Drehbuch und Regie: Thomas Isler. Kamera: Frank Barbian, Thomas Isler. Musik: Bernd Schurer.#-#SMALL#-#
#-#SMALL#-#Mit: Sonja Ablinger, Cesla Amarelle, Adrian Amstutz, Ralf-Uwe Beck, Christoph Blocher, Toni Brunner, Gilbert Collard, Oliver Diggelmann, Hans Fehr, Kurt Fluri, Elisabeth Haers, Hasan Irmak, Helen Keller, Martin Landolt, Jo Lang, Ueli Leuenberger, Philippe Mastronardi, Daniela Musiol, Giusep Nay, Arno Nelles, Andreas Noll, Reinhold Nussmüller, Wolfgang Palm, David Roth, Luzi Stamm, Heinz-Christian Starche, Andy Tschümperlin und Daniel Vischer.#-#SMALL#-#

#-#SMALL#-#Trailer »
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