7. September 2012

«Thorberg» von Dieter Fahrer

Die Zukunft ist ein leeres Wort

Eindrücklich erhebt sich der Thorberg auf der Strecke zwischen Bern und Burgdorf. Was aber geht in einem Gefangenen vor, der im Alcatraz der Schweiz einsitzt? Der Berner Regisseur Dieter Fahrer führt Aussenstehende in seinem grossartigen Film «Thorberg» mitten hinein in die Seele jener, denen die Freiheit entzogen wurde.

von Rudolf Amstutz
«Habe mein Leben verwirkt»: Luca (24), Schweizer. Foto: Look Now!

#-#QUOTE#-#«Allmählich wurde mir offenbar, dass die Linie, die Gut und Böse trennt, nicht zwischen Staaten, nicht zwischen Klassen und nicht zwischen Parteien verläuft, sondern quer durch jedes Menschenherz.»
aus «Der Archipel Gulag» von Alexander Solschenizyn#-#QUOTE#-#

#-#QUOTE#-#«It’s no Switzerland, no territory – no body, just mind.»
Andrij (23), Ukraine#-#QUOTE#-#

Luca hält sich an den Gitterstäben fest, schaut in die Ferne. Er, 24jährig, Schweizer, wegen eines Tötungsdeliktes zu 14 Jahren verurteilt, sitzt in Einzelhaft und darf zum Spaziergang nicht in den Hof. Deshalb steht er nun da, alleine, eingekerkert, hoch oben auf dem Dach, dort, wo man die grünen Wiesen sieht, die Alpen, die Freiheit. In keiner anderen Szene in Dieter Fahrers beeindruckendem Film «Thorberg» wird das Gefühl des Eingeschlossenseins visuell deutlicher umgesetzt, als hier. Dem Insassen wird als Strafe die unermessliche Weite der Aussenwelt sichtbar gemacht. Einer Welt, die für ihn in unerreichbare Weite gerückt ist.

Einen Film zu machen, über eine geschlossene Haftanstalt wie den Thorberg, das «Alcatraz» der Schweiz, ist ein mutiges Unterfangen. Nicht etwa, weil das Leben der Filmcrew bedroht wäre, sondern weil ein solches Projekt unweigerlich nach einer substanziellen Botschaft verlangt. Von Monstern unserer Gesellschaft ist längst in unserer Boulevard-Presse und auf Privatsendern die Rede. Oder vom Kuschelknast bei polternden und polarisierenden Rechtspolitikern. Fahrer, der freimütig zugibt, dass er «eine gewisse Sympathie für Aussenseiter, Gestrauchelte, Entgleiste» (Begleitheft zum Film) empfindet, hat es geschafft, in über 200 Tagen und Nächten, die er auf dem Thorberg verbracht hat, insgesamt 150 Stunden Material zusammenzutragen und diese auf 105 Minuten so zu komprimieren, dass nun eine Annäherung sichtbar wird, die für uns Aussenstehende ansonsten verborgen wäre.

«Thorberg» ist kein Film über ein Gefängnis. Und auch keine Dokumentation über den Alltag im Knast.  Obwohl der gelernte Fotograf Fahrer die langen Korridore der Haftanstalt, das Abschliessen der Zellen am Abend oder den Hof-Spaziergang im Schnee zu meditativen Bildern verarbeitet, geht es ihm in dieser Dokumentation nicht um das physische Innenleben. Vielmehr ist «Thorberg» ein Versuch über die Befindlichkeit von Menschen, deren Befindlichkeit niemand interessiert. Zu Tätern geworden und für schuldig befunden, sind sie alleine mit sich und mit der Zeit, die hier unendlich langsam verläuft.

180 Männer aus über 40 Nationen sind auf dem Thorberg inhaftiert. Sieben davon geben im Film Auskunft über ihre Taten, ihre Gedanken und über Gott und die Welt. Wer über Jahre eingeschlossen ist und kaum Kontakt zur Aussenwelt hat, verfällt zwangsläufig in Selbstreflektion.  Gemäss dem Schweizerischen Strafgesetzbuch dient der Strafvollzug auch dazu, «das soziale Verhalten des Gefangenen zu fördern, insbesondere die Fähigkeit straffrei zu leben.» Letztlich aber hängt es vom Verurteilten ab, ob und wie er hinter Gittern sein eigenes Spiegelbild betrachtet. Maiga, der Mann von der Elfenbeinküste, sieht alleine die Schweiz dafür verantwortlich, dass er straffällig geworden ist. Der eingangs erwähnte Luca dagegen sieht das Problem bei sich, gesteht ein, dass er mit seiner Tat sein noch junges Leben verwirkt habe. Doch die Reue bezieht sich nie auf sein Opfer, eine Frau, die ihr Leben lassen musste.

Andrij aus der Ukraine wiederum implodiert in Gefangenschaft, verhält sich apathisch und verweigert die Arbeit. Für ihn ist das Eingesperrtsein eine körperlose Erfahrung, ein kaum auszuhaltender Bewusstseinsterror. Und Ilaz kämpft seit Jahren gegen seine Einstufung als gemeingefährlich. Fahrer hat die Szene, in der der Kosovare mit seiner Hand den Brief mit dem ablehnenden Bescheid immer wieder auf dem Tisch dreht, als Einstiegsbild für seinen Film gewählt. Es ist dies die visuelle Verdichtung eines Zustandes, einer sich stetig im Kreis drehenden Befindlichkeit, in der die Zeit stillsteht und die Zukunft ein leeres Wort ist.

Dass man als Publikum während dieser Reise durch das Bewusststein dieser Menschen nie die Anwesenheit des Filmemachers oder seiner Kamera spürt, ist die grosse Kunst dieses Dokumentarfilms. Man kann nur erahnen, welche Vorarbeiten zu bewältigen waren, ganz zu schweigen vom Vertrauen, das sich der Filmemacher gegenüber den Protagonisten erarbeiten musste, um am Ende diese Nähe zu schaffen. Eine Nähe allerdings, die man nicht mit Sympathie verwechseln sollte. Der Film bleibt sich stets seiner Absicht, eine Versuchsanordnung über die Reise ins Innere des Eingesperrtseins zu sein treu, und verweigert sich konsequent dem Mitleid oder der Verurteilung. Als Ausganspunkt seines Filmprojekts wählte Fahrer das eingangs erwähnte Zitat aus Alexander Solschenizyns «Der Archipel Gulag». Und genau dies ist «Thorberg» geworden: eine beeindruckende filmische Umsetzung über die Linie, die Gut und Böse trennt.

Begleitende Ausstellungen:

«Thorberg. Hinter Gittern.»
Kammerausstellung mit Filmportraits von Dieter Fahrer
Bis 28. Oktober 2012
Museum für Kommunikation, Bern
Parallel zum Dokumentarfilm hat Dieter Fahrer mit seinem Team 18 kurze Filmporträts von Gefangenen geschaffen. Die Porträts werden in sechs in Originalgrösse nachgebauten Gefängniszellen präsentiert.
#-#SMALL#-#Webseite »#-#SMALL#-#

«Menschen vom Hoger – Leben in der Strafanstalt Thorberg.»
Ausstellung mit Fotoportraits von Hansueli Trachsel
Bis 2. Dezember 2012
Museum Krauchthal
«Menschen vom Hoger» zeigt Bilder des bekannten Berner Reportagefotografen Hansueli Trachsel.
Das Museum, das am Fusse des Thorbergs liegt, zeigt nebst dieser Sonderschau mit «Von Zelle zu Zelle» eine permanente Ausstellung. Sie thematisiert die Entwicklung vom Kartäuserkloster zur modernen Anstalt mit Hochsicherheitseinrichtungen.
#-#SMALL#-#Webseite »#-#SMALL#-#

#-#IMG2#-##-#SMALL#-#Thorberg. Schweiz 2012. Regie, Kamera und Produktion: Dieter Fahrer. Mit Insassen und Mitarbeitenden der Strafanstalt Thorberg.
«Thorberg» – Trailer »
«Thorberg» – Webseite »
#-#SMALL#-#

» empfehlen:
das projekt hilfe/kontakt werbung datenschutz/agb impressum