«All I See Is You» – Interview mit Marc Forster
«Frauen sind komplexer und faszinierender als Männer»
Wenn das Leben plötzlich aus den Fugen gerät: Marc Forsters neuer Film «All I See Is You» ist ein Beziehungsdrama, in dem der «Verlust» der Blindheit fatale Erkenntnisse zu Tage bringt. TheTitle hat sich mit dem Schweizer Regisseur und Drehbuchautor über das Sehen, über Experimentierlust und über in Hollywood gefragte eidgenössische Eigenheiten unterhalten.
Interview: Rudolf AmstutzSchwarz. Totenstille. Dann plötzlich: verschwommene Farben, grelle Lichtblitze. Über die Lautsprecher, kurze aber heftige Kakophonie. Marc Forster inszeniert in «All I See Is You» die Welt seiner blinden Hauptprotagonistin Gina (Blake Lively) als visuell-akustische Achterbahnfahrt. Um für solche Experimente Raum zu haben, gönnt sich der Schweizer Regisseur in regelmässigen Abständen eine Pause von grossen Produktionen wie «Quantum of Solace» oder «World War Z» und flüchtet in die von kommerziellen Zwängen befreite Welt der Independent Movies. Basierend auf seinem eigenen Drehbuch, das er in Zusammenarbeit mit Sean Conway («Ray Donovan») geschrieben hat, schildert er das Leben eines amerikanischen Ehepaares, das von Berufes wegen in Thailands Hauptstadt Bangkok lebt. In dieser fremden, hektischen Umgebung ist die blinde Gina völlig auf die Hilfe ihres Mannes James (Jason Clarke) angewiesen. Als Gina eröffnet wird, dass sie das Augenlicht, das sie einst als Kind bei einem Unfall in Spanien verloren hat, durch eine Operation wieder erlangen könnte, geht sie das Risiko ein.
«All I See Is You» ist ein Beziehungsdrama mit Thriller-Elementen, in dem der Augenblick des Sehens zusehends zu Brüchen in der Idylle führt. Die medizinische Heilung führt dazu, dass die Ehe von Gina und James langsam aus den Fugen gerät. «All I See Is You» ist bildgewaltig erzählt und doch ein stiller Film, der je klarer und bunter die Inszenierung zu werden scheint, sich umso tiefer in die Abgründe der Protagonisten begibt. Das Psychodrama erinnert an Forsters Film «Stay» von 2005 mit Naomi Watts, Ryan Gosling und Ewan McGregor. Wie dieser könnte auch «All I See Is You» als unterschätztes Zwischenwerk in die Filmographie des Bündners eingehen. Das wäre schade, denn gerade die Experimentierlust des Regisseurs sowie die glänzende Leistung von Blake Lively sorgen dafür, dass diesem Werk eine hohe Halbwertszeit zuteil werden wird.
Das Interview mit Marc Forster fand am 3. Oktober 2017 im Rahmen des Zurich Film Festivals statt:
Marc Forster, in «All I See Is You» schildern Sie eine Beziehung aus der Sicht einer blinden Frau. Was hat Sie auf diese Idee gebracht?
Marc Forster: Ganz einfach: Liebe macht blind (lacht). Nein, im Ernst: Ob man etwas sehen, oder eben nicht sehen kann – im übertragenen Sinne betrachtet – das hat mich interessiert. Und dies in den Kontext einer Beziehung zu stellen, war für mich der beste Weg, eine Geschichte darüber zu erzählen. Ob man etwas sehen kann oder nicht, kann darüber entscheiden, ob man den anderen weiterhin liebt oder ob die Beziehung in Brüche geht.
Kennen Sie persönlich jemanden, der blind ist?
Nein, aber ich habe mich für die Recherchen zum Film mit blinden Leuten unterhalten. Zwei davon — beide verloren als Teenager ihr Augenlicht und sind nun Mitte Dreissig wie Gina im Film — haben mir von diesen Lichtreflektionen erzählt, die sie wahrnehmen. Eine dritte Person, die ich getroffen habe, erzählte mir davon, dass sie nach einer Augenoperation wieder in der Lage war zu sehen. Es ging mir darum zu erfahren, wie diese Menschen die Realität wahrnehmen, wie sie sich an Dinge erinnern, die sie in ihrer Kindheit noch sehen konnten, über ihren emotionalen Zustand und wie sich dabei die wahrnehmenden Lichtverhältnisse verschieben. Und mir war es wichtig, dass ich diese Geschichte aus der Perspektive einer Frau erzähle.
Weshalb?
Frauen sind viel komplexer und viel faszinierender zu beobachten als Männer. Ich denke Männer sind sehr simpel, deshalb gehen sie ja auch in Actionfilme (lacht). Männer wissen wie man eine Waffe hält und damit schiesst, geht es aber um komplexe emotionale Dinge, repräsentieren dies Frauen besser. Der Mann im Film verhält sich ziemlich grundlegend: er will besitzen und kontrollieren und hat deshalb vielleicht bewusst eine blinde Frau gesucht. Aber in jenem Moment, in dem sie das Augenlicht zurückerhält, verschiebt sich die Kontrolle und die Besitzergreifung. Es geht letztlich darum, dass wenn man die andere Person nicht leben und atmen lässt, dass die Beziehung auf Dauer nicht funktionieren kann. Da verhält sich die Liebe wie eine Pflanze: giesst man sie nicht, stirbt sie.
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Weshalb haben Sie sich für die weibliche Hauptrolle für Blake Lively entschieden?
Die Wahl war eigentlich intuitiv. Als ich Blake getroffen habe, wurde schnell klar, dass sie den Stoff, den ich vermitteln will, extrem gut verstanden hat. Die Frau im Film ist schön und intelligent, doch ist ihr ihr Aussehen egal, da sie sich selber ja nicht sehen kann. Zudem ist der Mann überhaupt nicht daran interessiert, ihre Schönheit für andere sichtbar ins Rampenlicht zu stellen. Doch dann geht sie durch diese Verwandlung, weil sie sich plötzlich selber sehen kann und sich auch selber findet. Und Blake Lively hatte alle Elemente, die ich suchte.
Viele Szenen sind so gedreht, dass wir die Welt so wahrnehmen wie die blinde Gina. Vieles ist verschwommen.
Es gibt ja diesen Spruch von Woody Allen: «Der Film ist verschwommen, dann wird er garantiert in Frankreich ein Hit.» (lacht) Ich wollte was Bild und Ton betrifft etwas Experimentelles machen. Etwas, das man so vielleicht noch nicht gesehen hat. Für mich war es eine Herausforderung in diese Welt einzutauchen, mit den Möglichkeiten, die sich bieten, zu spielen und zu schauen, ob es letztlich auch funktioniert. Deshalb war es mir auch wichtig, den Ton in einer Art einzusetzen, dass man nachvollziehen kann, wie dieser von einer blinden Person wahrgenommen wird.
Haben Sie deshalb Thailand als Ort der Handlung gewählt?
Unter anderem ja. Gina versteht die Sprache nicht und es ist ungemein viel los in Bangkok, was einem Angriff auf die Sinne gleichkommt. Zudem verstärkt die Tatsache, dass sie als ausländisches Paar in einer fremden Welt leben, die Kontrolle des Mannes noch. In starkem Kontrast dazu steht dann der andere Handlungsraum mit Spanien.
Der Film ist eigentlich ein Liebesfilm, obwohl er als Thriller angepriesen wird.
Es könnte sein, dass jemand, der mit dem Wunsch einen Thriller zu sehen, enttäuscht aus dem Kino kommen wird. Es gibt gewisse Filme, wie etwa «Christopher Robin», die Adaption von «Winnie the Pooh», die ich gerade in London drehe, da weiss man einfach schon im Vorfeld, wie sie ankommen. «All I See Is You» dagegen wird viel mehr diskutiert werden. Man wird ihn mögen oder eben nicht, aber das ist ja auch das Interessante an Filmen und an der Kunst allgemein.
Sie sind Schweizer in Hollywood. Welche eidgenössischen Tugenden kommen Ihnen da entgegen?
Ich denke, es sind Disziplin und Arbeitsamkeit. Alle meine Filme, mit Ausnahme von «World War Z» waren stets im Budget und wurden auch pünktlich fertig gestellt. So etwas schätzen die Produzenten. Bei «All I See Is You» war ich sogar unter Budget. Ich respektiere einfach den Investor. Wenn jemand bereit ist, einem Geld zu geben, um ein Projekt zu realisieren, dann sind Verantwortung und Respekt zwingend. Ich kenne Regisseure, denen ist das egal, aber ich habe das nicht in mir. Das finde ich sehr schweizerisch. Ich musste auch erst lernen, mich in den USA zu verkaufen, wo jeder sich selbst mit «I‘m the best, I‘m the greatest» anpreist. Ich bin da bescheidener. Aber ich liebe, was ich mache und bin glücklich, dass ich weiterhin Filme realisieren kann, obwohl es mir überhaupt nicht liegt, mich in den Vordergrund zu stellen.
#-#SMALL#-#«All I See Is You». USA 2016. 110 Minuten. Regie: Marc Forster. Drehbuch: Marc Forster und Sean Conway. Kamera: Matthias Koenigswieser. Musik: Marc Streitenfeld.
Mit: Blake Lively (Gina), Jason Clarke (James), Yvonne Strahovski (Karen), Danny Huston (Doctor), Wes Chatham (Daniel), Ahna O’Reilly (Carla), Miquel Fernández (Ramon), Kaitlin Orem (Lucy).
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