10. November 2008

DOSSIER: SOFT MACHINE – Interview mit Robert Wyatt

«Ich bin gerne in der Grauzone zuhause»

Er ist die graue Eminenz der progressiven Rockszene: Robert Wyatt. TheTitle würdigte in einer seiner früheren Ausgaben die Leistungen des 63-Jährigen in einem seiner ehemaligen Band Soft Machine gewidmeten Dossier. Nun haben wir aus Anlass der Vinyl-Wiederveröffentlichungen seines Werkes diesen Ausnahmemusiker auch persönlich treffen dürfen. Zu einem langen und ganz und gar offenherzigen Gespräch.

Interview: Robert Rotifer
Robert Wyatt – fotografiert von Alfie Wyatt. Foto: Domino Records

Wenn Karrieren im Popgeschäft sich wahlweise in Charts oder Credibility berechnen lassen, liegt Robert Wyatt in letzerer Wertung so weit vorne wie er in der ersten beinahe nicht vorkommt (seine Cover-Version von «I’m A Believer» schaffte es 1974 auf Platz 29 der britischen Hitparade). Kaum eine prägende Persönlichkeit der englischen Sixties-Szene hat die letzten vier Jahrzehnte mit einer derart intakten Integrität überlebt. Als Schlagzeuger und Sänger der in Canterbury, Kent, formierten Band Soft Machine war der ursprünglich als Jazz-Fan sozialisierte, mit einer eigenwillig charismatischen Stimme gesegnete Multi-Instrumentalist eine der treibenden Kräfte der keimenden Rock-Avantgarde der Endsechziger. Nach einem Sturz aus dem dritten Stock bei einer Londoner Party vor 35 Jahren wandelte sich der nun an den Rollstuhl gefesselte Wyatt zum nicht bloss von der beharrlichen Minderheit der Art-Rock-Freunde hochverehrten, idiosynkratischen Solokünstler. Dieser Tage bringt das britische Label Domino Records, das vergangenes Jahr sein letztes Album «Comicopera» veröffentlichte, den beachtlichen Katalog Wyatts seither erschienener Alben und EPs als CDs und Vinyl-Platten neu heraus.

TheTitle traf den in einer Kleinstadt in Lincolnshire wohnhaften 63-jährigen bei einem seiner Arbeitsaufenthalte im West-Londoner Studio des engen Freundes und Ex-Roxy-Music-Gitarristen Phil Manzanera zu einem offenherzigen Gespräch über sein Lebenswerk, berühmte und verarmte Musikerfreunde, die Krise des Kapitalismus, seinen Alkoholismus, seine Jugend in Kent und Nerz-Züchter in Norwegen. Mit dabei war Alfreda «Alfie» Benge, Wyatts Frau seit 1974, Textautorin einer grossen Zahl seiner Songs und Gestalterin aller seiner Plattencovers. Auf dem Tisch lag eine Auswahl arabischer Süssspeisen vom Laden um die Ecke, nebenan der Aufnahmeraum, wo ein grosser Teil von Robert Wyatts Werken der letzten Jahrzehnte entstand, an den Wänden Manzaneras Mementos aus Roxy Music-Zeiten und das Original-Artwork von Brian Enos «Taking Tiger Mountain (By Strategy)». Vorm Fenster ratterten die an dieser Stelle mehrgleisig über der Erde verkehrenden Züge der Londoner Underground vorbei.

Robert Wyatt: Man hört hier immer die Züge, die draussen vorbeifahren. Das macht mich sehr nostalgisch, weil es dort, wo wir jetzt wohnen, leider keine Züge gibt.

Sie meinen oben im Norden in Lincolnshire? Ihre Jugend haben Sie ja in Kent verbracht, wo die sogenannte Canterbury Szene entstand. Aber Ihre Jugend dort war offenbar nicht sehr erfreulich.

Das stimmt! Ich wurde ja nicht dort geboren, sondern in Bristol, auf der gegenüberliegenden Seite von England, weil meine Mutter für die BBC arbeitete, und alle Mitarbeiter umgesiedelt wurden, um der Bombardierung von London zu entgehen. Die BBC war ja ein zentrales Ziel der Bombenangriffe. Meine Kindheit verbrachte ich aber in West Dulwich in Südlondon. Als mein Vater dann an Multiple Sklerose erkrankte, musste er in Frührente gehen. Er bekam 2000 Pfund dafür, und wir zogen nach East Kent. Für mich war das ein Desaster, denn ich war fast elf, an der Schwelle zur Pubertät, plötzlich umgeben von nichts als rostenden Scheunen und grünen Feldern. Das ist nicht das, was man in so einem Alter sucht.

Und die verzopfte Schule, die Sie in Canterbury besuchten, war für Sie auch kein glücklicher Ort.

Sie war nicht wirklich so verzopft, ich machte nur eine sehr schlechte Figur dort. Ich wurde oft mit dem Rohrstock geschlagen. Der Direktor war sehr gewalttätig. Ich war in keinem Fach gut, ausser interessanterweise in der englischen Grammatik. In Dingen also, die sie heute gar nicht mehr unterrichten, über adverbielle Nebensätze und den exakten Unterschied zwischen einem Doppel- und einem Strichpunkt.

Aber diese Schule war auch der Ort, wo der Kern von Soft Machine sich formiert hat. Haben Sie wenigstens daran eine angenehme Erinnerung?

Nein. Ich wäre sehr gern in London geblieben, wo es überall aufkeimende Musiker gab. Mit allem Respekt für die Musiker, in deren Gesellschaft ich mich schliesslich wiederfand: Ich wäre wohl Ende der Sechziger nicht in gar so einem tiefen Haufen Scheisse gelandet, wenn ich zuvor an einem anderen Ort mit anderen Leuten zusammen gewesen wäre.

Wenn Sie also sagen, dass Sie eine Nostalgie gegenüber Zügen hegen, denken Sie dann daran, wie Sie damals per Zug von Kent hinaus nach London gefahren sind?

Absolut. Wir fuhren immer rauf nach London, um Ornette Coleman-Platten zu kaufen. Wir kauften immer eine Platte für alle. Es gab in Kent damals ungefähr sieben Jazz-Fans, aber nur einer von uns kaufte jeweils eine bestimmte Platte, die wir dann gemeinsam hörten. Und manchmal gingen wir uns sogar ein Konzert ansehen. Duke Ellington oder das Modern Jazz Quartet, das war schon was Besonderes. Wir überlegten uns ernsthaft, ob wir von zu Hause weglaufen und in Soho bleiben sollten. Für immer. Aber wir taten’s dann natürlich doch nicht.

Aber diese sieben Leute, von denen Sie sprechen, trafen sich alle im Haus Ihrer Eltern.

Nicht unbedingt. Ich weiss nicht, wo diese Geschichten herkommen.

Ach, die Geschichte ihres Elternhauses als Nabel der künftigen Canterbury Szene ist also auch bloss ein Mythos?

Ich kann mich nicht erinnern, dass da viele Leute hingekommen wären. Schon gar keine Musiker. Es stimmt schon: als ich sechzehn war und die Schule verliess, ging ich nach Spanien, und ein paar meiner Freunde machten sich unterdessen in unserem Haus breit. Ich habe Fotos davon gesehen. Sie hatten viel Spass da, aber ich war nicht dabei. In Wahrheit ist das wohl einer der Gründe, warum meine Eltern das Haus verkauften und auszogen, weil sie die ehemaligen alten Freunde von mir, die dauernd Platten spielten und sich blendend amüsierten, nicht loswerden konnten. Ich hatte ja schon früh Freunde in der Schule gehabt, mit denen ich zusammen Platten hörte, aber von denen wurde keiner ein Musiker. Da gab es zum Beispiel Ted Bing, der wurde ein Nerz-Züchter in Norwegen. Also bitte, der ist wahrscheinlich der einzige Nerz-Züchter, der Ornette Colemans gesamtes frühes Repertoire auswendig singen kann.

Das ist sehr interessant. Wenn diverse Autoren der Popgeschichte ihre diversen Darstellungen der Hergänge abgeben, entwerfen sie dabei ja immer bestimmte Erzählstränge und...

…Ja, das tun sie, und deshalb glaube ich auch grundsätzlich nicht an Geschichte. Da kommt bestenfalls eine Erzählung zum Vorschein, die auf der Realität basiert. Aber der Mythos entwickelt ein Eigenleben und ist wesentlich stärker und vielleicht auch interessanter, als was tatsächlich passiert ist. Mich stört das überhaupt nicht. Es hat bloss nichts mit meiner Musik oder meinem Innenleben als Musiker zu tun. Als einmal ein Film über das Leben von Quentin Crisp gedreht wurde, sagte der Hauptdarsteller zu Crisp: «Wir werden wirklich versuchen, authentisch zu sein. Wir wollen, dass es Ihrem Leben so nahe wie möglich kommt.» Und Crisp antwortete: «Oh Gott, ich will doch sehr hoffen, dass es interessanter wird als das.» Grossartig.

Um auf die angesprochenen etablierten Erzählstränge zurückzukommen: da gibt es etwa die weitverbreitete Geschichte der Arbeiterklasse, die über die Popkultur ins Showbusiness-Establishment eingedrungen ist. Aber es wird nicht so oft erklärt, wie sich junge Jazz-Hörer wie Sie dem Rock’n’Roll öffneten. Hatten Sie damals je Bedenken beim Überschreiten dieser Grenzen?

Ich sicher nicht. Für mich war es aufregend, für ein tanzendes Publikum zu spielen. In den mittleren Sechzigern spielten wir ja oft bei lokalen Tanzveranstaltungen. Das Gefühl, einen Groove vorzugeben, zu dem der ganze Laden tanzt, war wunderbar. Es war belebend. So dankbar ich den Jazz-Schlagzeugern auch dafür war, was sie mir beigebracht hatten, so gern hörte ich mir die Musik von Allen Toussaint, Lee Dorsey oder Soul-Platten von Solomon Burke an. Ich hatte immer einen ausgeprägten Hang zu schwarzer Musik. Duke Ellington genauso wie Ornette Coleman oder Cecil Taylor und bis hin zu Reggae und afrikanischer Musik. Das waren immer meine musikalischen Referenzen: die schwarzen Beiträge zur Avantgarde und zur Popmusik.

War Ihre Entscheidung, mit Rockgruppen in Tanzhallen zu spielen, auch eine Abwendung vom kulturellen Snobismus Ihrer Herkunft?

Mein Vater starb, als ich achtzehn war, also wusste er nie, was ich später machen würde, aber er war schockiert, als ich meine Violine, auf der ich zwei Jahre lang gelernt hatte, gegen eine Trompete tauschte. Er sagte, niemand hätte grosse Konzerte für die Trompete geschrieben. Ich erklärte ihm, dass es dafür Miles Davis und Gil Evans gäbe. Aber das war etwas, das er nicht begreifen konnte. Der Gedanke war für ihn unerreichbar. Das machte mich traurig, aber man muss eben seinem Weg folgen. Ich liebte jedenfalls die Musik, mit der er mich grossgezogen hatte: europäische klassische Musik aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Sie haben einmal erzählt, Ihre Eltern hätten in der Überzeugung gelebt, dass die Welt ein anständigerer Ort werden würde. Angesichts der Richtung, in die die Welt fortschreitet, ist der Fortschritt an sich schon lange keine verlässlich positive Grösse mehr.

Ich wurde zwar erst 1945 geboren, aber ich erinnere mich an das allgemeine Aufatmen nach dem Zweiten Weltkrieg. Ich muss gewissermassen per Osmose einen Eindruck dieser Erleichterung aufgeschnappt haben. Ein ganzer Haufen Probleme war erfolgreich bewältigt worden, nicht bloss in Bezug auf nationale Rivalitäten und wer wen besiegt hatte, sondern auch im Sinne der Implikationen für uns Briten: wenn wir einen Krieg gegen Rassismus geführt hatten, dann bedeutete das für uns unausweichlich, dass wir ab jetzt moralisch zur Auflösung der Kolonien des britischen Empire verpflichtet waren. So interpretierten meine Eltern die Lage. Nachdem wir selbst all die Jahre lang in der Dritten Welt gewissermassen die Rolle der Nazis gespielt und aller Welt das aufgezwungen hatten, was wir als eine überlegene Kultur erachteten, hatten wir nun zum ersten Mal einen kleinen Blick darauf geworfen, wie sich das für die andere Seite anfühlen muss. Wir hatten die Geschichte aus dem Blickwinkel der Opfer gesehen, ob sie nun Zigeuner oder Juden waren. Und die Erkenntnis, die daraus folgte, empfanden meine Eltern als Fortschritt.

Leider scheint es ja dieser Tage eher so, als wäre die hauptsächliche Erkenntnis, die die angelsächsische Welt aus dem Zweiten Weltkrieg mitgenommen hat, dass man das Böse suchen und ausschalten muss.

Ja, aber mit ungefähr achteinhalb Jahren sollte man dieser Comic-Strip-artigen Welt eigentlich entwachsen sein. Es ist beunruhigend, wie viel Ansehen diese auf einer Karikatur beruhende infantile Weltsicht bis heute unter den Regierenden geniesst. Ich wurde in einer Atmosphäre grossgezogen, die nicht besonders linksgerichtet, aber zumindest in diesem Aspekt anti-elitär war. Im kulturellen Sinn waren meine Eltern sehr elitär, sie waren immer sehr besorgt über das Niveau der Kultur, aber in ihrem Respekt für andere Menschen waren sie egalitär. Alfie ist zwei Jahre älter als ich, und sie erinnert sich noch daran, dass in der Schule der Loyalitätstag für das Empire bereits heiss umstritten war. Winston Churchill bekannte offen, dass er keinen Kampf für die Demokratie, sondern um unser Empire führte. In dieser Hinsicht war er ehrlich. Ich würde diese Art von Ehrlichkeit schätzen. Wenn wir schon die menschliche Natur nicht verändern können, ist dies das mindeste, was ich verlangen würde. Wenn die mächtigsten Menschen der Welt die am weitesten entwickelte Technologie zur Kontrolle der Ressourcen einsetzen wollen, kann das jeder verstehen. Sie sollten bloss nicht vortäuschen, dass dies ein moralischer Kreuzzug ist.

Ihre Frau Alfie hat einmal in einem Interview enthüllt, dass Sie oft den ganzen Tag wütend sind, wenn in den Nachrichten ein Minister etwas gesagt hat, was Sie aufregt. Sie hätten da eine sehr dünne Haut.

Schlaflose Nächte!

Ist also am derzeitigen Zusammenbruch der Finanzmärkte etwas dran, das den Anti-Kapitalisten in Ihnen insgeheim befriedigt?

Ich hab nie verstanden, wie die Welt von Leuten am laufen gehalten werden kann, deren einziges Motiv Profit ist, damit dann etwas von ihrem Reichtum nach unten durchsickert. Ich glaube nicht, dass sich so die Welt organisieren lässt. Ich finde es auch ein wenig unfair den Kapitalisten gegenüber, von ihnen zu verlangen, Philanthropen zu sein. Das ist nicht, wozu sie da sind. Wieso sollte die Wirtschaft zur Wohltätigkeit beitragen? Ihr Job ist, Geld für ihre Aktionäre zu machen. Das ist alles, was sie tun sollten. Ich wäre in dieser Hinsicht konservativer als die Konservativen. Der Punkt ist aber, dass sie nicht Länder oder internationale Beziehungen organisieren sollten. Dafür sollte es eine leitende Hand geben, die vom Volk berufen ist. Es überrascht mich jedenfalls nicht, dass ein auf purem Kapitalismus beruhendes System instabil ist. Das scheint mir offensichtlich, auch wenn ich mit meinem sturen Standpunkt dazu schon so einige Leute zur Verzweiflung gebracht habe. Aber wenn man seine ganze Jugend damit zugebracht hat, Cecil Taylor-Platten zu hören, ist man schon gewohnt, sich in einer sehr kleinen Minderheit zu bewegen.

Das mag sein, aber Ihre Platten scheinen in den letzten Jahren eine höhere Popularität zu geniessen als zur Zeit ihrer ersten Veröffentlichung.

Das hat wohl einfach mit dem Glücksfall zu tun, dass das Ryko-Label, bevor es vor zwei Jahren von seinen neuen Eigentümern ausgenommen wurde, sich grossartig darauf verstand, mein ganzes altes Zeug neu zu verpacken und unter die Leute zu bringen. Und jetzt hat Domino Records das alles übernommen, weil ich eine Platte für die gemacht habe. Die sind sehr enthusiastisch, aber ich weiss nicht, ob es Bedarf dafür gibt. Seitdem ich keine Konzerte mehr gebe, bin ich mir meiner Beziehung zu meinem Publikum nicht mehr so bewusst. Aber es ist alles sehr bescheiden, im Vergleich zu einigen der Musiker, die ich kenne.

Aber interessanterweise ist ja jetzt alles im Musikgeschäft bescheiden geworden.

Soll wohl so sein. Dann ist jetzt eben Zeit für kleine Biere.

Kann es sein, dass mit dem Schrumpfen des Mainstream-Markts die Enthusiasten-Musik proportional an Boden gewinnt?

Ich weiss nicht. Aber ich bin sehr dankbar, weil ich ein langsamer Arbeiter und Denker bin und die meiste Zeit über nicht weiss, was ich tun soll, wie ich meine Ressourcen verwalten oder das Geld aufbringen soll. Trotzdem haben sich über die letzten drei, vier Jahrzehnte hinweg ein paar Stunden Musik angesammelt. Rückblickend nimmt sich das wie ein ordentlicher Haufen Zeug aus. Domino bringt nun von «Rock Bottom» von 1974 aufwärts alles neu heraus. Einige dieser Alben wie zum Beispiel «Live at Drury Lane» sind nie zuvor auf Vinyl erschienen. Manche benötigen gar vier Plattenseiten, weil sie für eine einfache LP zu lang sind. «Shleep» füllt zum Beispiel drei Seiten, also hab ich ein paar Schnipsel von zu Hause für die vierte Seite herausgesucht. Das hat Spass gemacht.

Es ist ein unerwarteter Segen, dass Vinyl wieder in Mode kommt.

Das hat mir so grosse Freude gemacht, denn Ryko brachte ja überhaupt kein Vinyl heraus. Das Wort Ryko bedeutet, glaub ich, sogar Laser auf japanisch, die machten also aus Programm nur CDs. Domino gibt dagegen mit Stolz Vinyl-Platten heraus. Die haben einen Typen namens Paul Briggs, der uns durch den ganzen Produktionsprozess begleitet und Kopien der Vinyl-Pressungen zum Probehören geschickt hat. Er war wirklich sehr hilfreich dabei, diese Pressungen richtig hinzukriegen. Er hört auch selbst viele Vinyl-Platten, inklusive vieler alter Sachen, die ich selbst sehr schätze, wie zum Beispiel Sarah Vaughan. Er weiss also, was für eine Art von Klang ich mag. Alles wird so verpackt, wie es war, ausgenommen «Rock Bottom», auf der Alfie wieder die Bleistiftzeichnung haben wollte, die auf der Original-LP drauf war.

Sind die von Alfie gestalteten CD-Cover im Original grösser? Oder mussten ihre Bilder für die Vinyl-Fassungen künstlich aufgeblasen werden?

Eigentlich macht sie die Designs gerne in der gleichen Grösse, in der sie am Ende erscheinen. Die LP-Covers waren alle im LP-Format, aber was die anderen angeht, weiss ich eigentlich nicht... Alfie? (sie macht nebenan gerade Tee) Tut mir leid, dass ich dich unterbreche, aber ich wollte dich gerade etwas fragen: Die Artworks, die du gemacht hast, waren meist in LP-Grösse, oder? Wie hast du das mit den CDs gemacht? Die waren nicht wirklich so klein, oder?

Alfie: Sie waren etwas grösser. Ungefähr die Grösse einer Single. «Shleep» war recht gross und wird jetzt einen Rahmen haben. So wie alle anderen auch. Als ich das Original-Cover von «Rock Bottom» aus seinem Rahmen nahm, waren die Ränder darunter ganz braun.

Wyatt: Man hätte das ja wegcomputern können, aber Alfie sagte nein, das bleibt, wie es ist.

Es ist ja auch eine nette visuelle Metapher dafür, dass das alles altes Zeug ist.

Alfie: Es ist altes Zeug, aber es ist dieselbe Ehefrau.

Wyatt: Das ist wahr. Durch dick und dünn.

Alfie: Das kann man nicht bei vielen Musikern behaupten, die besorgen sich üblicherweise eine neue, jüngere Version.

Wir haben auch vorher «Rock Bottom» erwähnt, wo der Song «Alifib» drauf ist, der sehr offen Ihre Beziehung zueinander beschreibt. Der Text scheint immer noch gültig zu sein.

Wyatt: Ja, sicher. Es war nicht leicht für Alfie. Zum Beispiel mein bescheuertes Benehmen, als ich mich über Jahrzehnte hinweg täglich betrank. Dies ist das erste Jahr, in dem ich es geschafft habe, etwas dagegen zu tun. Aber es war kein Bett aus Rosen, um es mit einem Klischee zu sagen.

Dabei machen Sie ja einen sehr umgänglichen Eindruck. Ich stelle mir Sie als einen freundlichen Säufer vor. Sie haben ja auch schon öffentlich zugegeben, dass Ihnen der Alkohol abgeht.

Ja, ich vermisse die dramatische Abgründigkeit des Betrunkenwerdens, aber was wirklich schön am Nüchternsein ist: ich kann mich daran erinnern, was ich gestern gesagt habe. Das ist so, als hätte sich mir eine völlig neue Welt eröffnet. Die Dinge sind jetzt machbar. Man muss nicht betrunken sein, um Ideen zu haben, und das ist eine Erleichterung.

Waren Sie wirklich so ein Alkoholiker, dass es Ihr Leben beeinträchtigte? Sie schienen immer sehr gut beisammen zu sein.

Alfie: Er trank heimlich den ganzen Tag. Er versteckte Flaschen. Wir verbringen üblicherweise den Tag damit, unsere Arbeit getrennt zu erledigen, und am Abend kommen wir zusammen und reden miteinander. Jeden Abend schielte er. Nacht um Nacht. Bis ich mir nach ein paar Monaten schliesslich dachte: Ich bin vollkommen allein. Die Person, die ich geheiratet habe, war eine Person mit Hirn, die zusammenhängend denken und kohärent sprechen konnte, ohne sich zu wiederholen. Das Saufen macht die Menschen schrecklich egozentrisch. Es zerstört ihre Fähigkeit, sich in andere hinein zu versetzen. Ich dachte, ich hätte ihn verloren, er hätte mich verlassen. Und nach 35 Jahren fühlte ich mich wirklich einsam. Jetzt hab ich ihn wieder zurück. Vielleicht hätte er weiterhin wundervolle Musik machen können. Aber er hätte ganz sicher keine Frau mehr gehabt. Es war sinnlos, sinnlos.

Wyatt: Mmh...

Das ist eine sehr klare Diagnose. Wie war es für Sie, all die alte Musik noch einmal zu hören. Eine Reise in die Vergangenheit?

Wyatt: Ich erinnerte mich vor allem an die Entscheidungen, die mit den Platten einhergingen. Zum Beispiel «Shleep» über «Cuckooland» bis zu «Comicopera»: da wuchs nach und nach eine neue Familie heran, mit Annie Whitehead an der Posaune, Jamie Johnson, dem Studiotechniker und zeitweiligen Bassisten, Phil Manzanera, Brian Eno sowieso, den kenn ich ja seit Jahren, aber auch mit der Entdeckung von Gilad Atzmon und Yaron Stavi, die Saxophon und Kontrabass spielen. Auf «Comicopera» hat sich dieser Kreis noch erweitert. Ich konnte das im Schnellvorlauf nachvollziehen.

Es ist also eine Geschichte der Freundschaften.

Ja, neue Freundschaften und alte, die sich fortsetzen, wie die mit Brian Eno und Phil Manzanera, und ausserdem eine der unwahrscheinlichsten Sachen der Welt, nämlich dass Paul Weller auf jeweils zwei Tracks meiner letzten drei Alben gespielt hat. Er ist also auf sechs meiner Songs mit dabei, sieben, wenn man einen kleinen besoffenen Ausritt mitzählt, nämlich die Version von «September in the Rain», die jetzt auf der vierten Seite von «Shleep» drauf ist. Er versuchte erfolglos, ein bisschen wie Dinah Washington zu klingen, was ich sowieso nicht könnte, aber wir waren eben beide betrunken, da traut man sich alles zu. Es ist wirklich nett, das nun alles auf einmal erkennen zu können.

Alfie: Es erinnert einen daran, wie kurz das Leben ist. Es ist deprimierend. Man denkt sich: Seltsam, das war doch erst vor ein paar Tagen! Wie «Dondestan» zum Beispiel. Ich dachte, wir wären erst letztes Jahr in Spanien gewesen, dabei ist es 20 Jahre her. Bevor du blinzeln kannst, wirst du tot sein. Das ist es dann gewesen.

Sie haben selbst vorher gesagt, dass sich das Aufgebot Ihrer Mitmusiker erweitert und verändert hat, aber all Ihre Platten ergeben nebeneinander ein sehr schlüssiges Bild, selbst «Rock Bottom» neben «Comicopera». Sie sind nicht gerade David Bowie. Innerhalb jeder Ihrer Platten gibt es zwar verschiedene Welten, aber Sie reisen nicht mit jeder Platte von einer Welt zur anderen.

Ich versuche mich nie neu zu erfinden. Ich mache immer nur weiter und weiter in meinem Versuch, mehr oder weniger dieselbe Platte zu machen. Aber dann kommt immer was anderes dabei heraus, weil die Umstände und die Leute, unter denen ich mich aufhalte, und die Dinge, die ich fühle, andere sind. Meine Grundidee hat sich aber überhaupt nicht geändert. Ich würde es nicht einmal eine Idee nennen. Die Quelle, aus der meine Musik kommt, ist immer noch dieselbe, weil der Input dessen, was ich mir anhöre, einfach eine Verfeinerung davon ist, was ich schon als Teenager gehört habe. Während ich mich also über die Infantilisierung der Politik ereifere, bin ich selbst für immer gefangen in der Adoleszenz eines Jazz-Fans aus den fünfziger Jahren. Ich höre immer wieder und wieder dieselben Platten, und sie verändern die Bedeutung, die sie für mich haben. Aber sie werden auch immer wichtiger, je tiefer sie in die Vergangenheit treten, so wie Familienfotos. Ich habe keine objektive kritische Meinung dazu. Ich könnte auch nicht behaupten, dass die Platten, die ich mag, irgendwie besser wären als die Platten, die irgendjemand anderer mag. Aber das war, was ich hörte, als ich als Hörer und Musiker erwachte. Ich versuche immer noch herauszufinden, warum die Platten von Miles Davis und Gil Evans für mich so endlos bereichernd und berührend sind. Oder warum Otis Reddings «Try a Little Tenderness» für mich immer noch so ergreifend ist. In diesem Sinne habe ich mich nicht verändert. Was aus mir herauskommt, reflektiert endlos meine Vorstellung davon, was man mit Musik machen kann. Es wäre also vollkommen künstlich, wenn ich versuchen würde, mich neu zu erfinden. Wenn mein achtzehnjähriges Ich heute bei mir zu Besuch käme, würde er sich unter meinen Büchern, Bildern und Platten sehr zuhause fühlen.

Einige dieser Platten wurden gemacht, als Sie noch im Londoner Vorort Twickenham lebten. Vor zwanzig Jahren zogen Sie dann nach Lincolnshire. Leben Sie da nicht etwas isoliert, wenn gerade niemand aus London zu Besuch kommt?

Ich hab schon neue Freunde gewonnen, darunter übrigens auch ein paar Musiker. Dave Tomlinson, der bei der Band Magazine war, lebt in meiner Stadt, und ich habe ein bisschen auf seinem neuen Projekt herumgetrötet. Aber grundsätzlich komme ich runter nach London, um meine Platten zu machen. Phil Manzanera überlässt uns freundlicherweise dieses Studio zur freien Verwendung. Unter der Woche ist er hier mit seiner Frau Claire, und übers Wochenende lässt er uns allein hier bleiben. Das Grossartige an diesem Studio ist, dass es für alle gut erreichbar ist, ob für Brian Eno oder Yaron Stavi. Die können sich einfach auf ein Fahrrad oder in einen Bus setzen und sind in zehn Minuten da. Wenn ich hier ankomme, tragen mich zwei Männer, die im Bildhaueratelier im Erdgeschoss arbeiten, in den zweiten Stock hinauf. Das Stiegenhaus ist so weitläufig und steil, dass ich einfach hier oben bleibe, bis ich mit meiner Arbeit fertig bin. Und dann fahre ich direkt wieder zurück nach Lincolnshire. Ich sehe also nichts von der Umgebung. Aber ich mag die Aussicht über die Bahnanlage. Grundsätzlich verlassen wir Lincolnshire nicht sehr oft, weil Alfies Mutter, die ein paar Schlaganfälle hinter sich hat, bei uns wohnt, und wir sie nicht lange allein lassen wollen. Wir kommen also nur hierher, wenn es um was Ernsthaftes geht. Abgesehen davon muss Alfie alle sechs Wochen nach London fahren, um sich eine Lucentis-Injektion für ihre Augen verpassen zu lassen. Sie hat eine chronische Augenkrankheit.

Das ist sehr teuer, oder?

Es ist ganz erstaunlich teuer. Eine unserer Freundinnen, ich werde sie namentlich nennen, ist Delfina Entrecanales. Sie war für uns da, als ich meinen Unfall hatte. Sie gab uns ein Quartier, weil wir überhaupt kein Geld und keinen Ort zum Leben hatten. Sie hatte eine Farm in Wiltshire, sie brachte uns dort unter, und ich nahm da neben «Rock Bottom» auch noch ein paar andere Sachen mit Carla Bley und Michael Mantler auf. Sie ist eine Mäzenin, sie hatte früher auch eine Galerie in Bermondsey. Wir waren zufällig bei ihr, als wir herausfanden, was mit Alfies Augen geschehen war. Wir hätten sie nie danach gefragt, aber sie sagte einfach: «Ich zahle dafür.» Und das macht sie auch. Wir sind sehr dankbar.

Um auf Ihren Unfall zu sprechen zu kommen, wegen dem Sie seit 1973 im Rollstuhl sitzen. Lag hinter diesem versehentlichen Fenstersturz während einer Party vielleicht auch eine versteckte Selbstmordabsicht?

Ich kann mich nicht erinnern. Aber es verwundert mich nicht, dass es passierte. Ich war so unfassbar betrunken, dass ich nicht mehr wusste, was ich tat. Das heisst, ich wusste es schon: Ich dachte, ich würde aus dem Fenster fliegen. Wie sich herausstellte, war dem auch so. Ich war immer extrem draufgängerisch. Es stimmt, dass ich versuchte mich umzubringen, als ich sechzehn war, und ich probierte es später noch einige Male. Aber sicher nicht, seit ich Alfie getroffen habe. Es war einfach nur Bedenkenlosigkeit. Ich bin chronisch sorglos. Alfie denkt dagegen immer daran, was geschehen könnte, und an das Ende. Aber was mein eigenes Leben anlangt, macht mir das überhaupt nichts aus. Ich lese zwar, was gewisse Romanschriftsteller über die Midlife Crisis und den nahenden Tod schreiben, aber es betrifft mich überhaupt nicht. Man muss nicht selbstmordgefährdet sein, um so zu empfinden. Ich fühle mich sehr wohl dabei, das Heu einzufahren, während die Sonne scheint. An diesem Abend war ich aber einfach betrunken.

Sie haben schon öfter gesagt, dass die Person, die Sie vor dem Unfall waren, Ihnen aus heutiger Sicht fremd vorkommt.

Nun, einen Unterschied hat es schon gemacht. Es war auf eine gewisse Weise auch eine neue Chance, weil ich danach offensichtlich nicht mehr Schlagzeuger sein konnte und dies mein Verhältnis zur Musik drastisch veränderte. Was sich auch völlig gewandelt hat: als Jugendlicher glaubte ich an Kunst als eine Art Religion, und dass das Streben nach Schönheit – im weiteren ästhetischen Sinn – für mich die höchste aller Berufungen war. Alles, was dem im Weg stand, musste aus dem Weg geräumt werden. Das glaube ich heute alles nicht mehr. Andere Dinge sind jetzt wichtiger für mich als der Drang nach ästhetischer Perfektion. Freundschaft zum Beispiel. Und dass man anderen Menschen nicht wehtut. Aber diese Veränderung hätte ich vielleicht so oder so durchgemacht.

Vorhin haben Sie die Grosszügigkeit von Phil Manzanera erwähnt. Sein Studio, in dem wir sitzen, wurde auf der Tatsache erbaut, dass Roxy Music nicht nur ein Haufen ehemaliger Kunstschüler, sondern auch eine kommerziell verwertbare Einheit waren. Und einer wie Brian Eno hilft neben Ihnen auch Leuten wie Coldplay aus – selbst wenn er dabei angeblich vor oder während einer Produktion nicht wissen will, wie viel er dafür bezahlt kriegt. Aber er wird schon gut daran verdienen, das weiss er wohl. Ist Ihnen das bewusst, während Sie mit diesen Leuten arbeiten?

Absolut. Die Einkommensunterschiede zwischen den verschiedenen Leuten, mit denen ich mich an beiden Enden des Spektrums treffe, sind enorm. Als ich das letzte Mal mit Karen Mantler sprach, die meiner Meinung nach absolut wundervoll ist, musste sie in New York nebenbei als Kellnerin arbeiten, um ihr Leben zu meistern. Trotz der erstaunlichen Errungenschaften ihrer Mutter Carla Bley und ihres Vaters Michael Mantler ist da überhaupt kein Geld vorhanden. Und dann kenne ich wieder andere Leute, die sich für vollkommene Versager halten würden, wenn sie so viele Platten verkaufen würden wie ich. Aber das scheint alles keine Rolle zu spielen, wenn wir hier gemeinsam in einem Raum sind. Manche Leute haben das Talent, eine Saite anzuschlagen, und Millionen von Menschen wollen das hören. Andere wieder machen etwas, was für sie selbst vollkommen authentisch, aber für wesentlich weniger Menschen nützlich oder attraktiv erscheint. Ich glaube es hat überhaupt keinen Sinn zu versuchen, das eine oder das andere zu sein. Man tut einfach, was man kann, und hofft, dass genug Leute es mögen werden, dass man davon leben kann. Alles, was darüber hinausgeht, ist bloss Unterhaltung. Es ist zwar interessant, die verschiedenen Dinge zu sehen, die Leute mit viel Geld anstellen können, aber Alfie und ich sind auch nicht pleite. Es geht uns gut. Ich kenne jede Menge hervorragender Musiker, die wirklich absolut pleite sind. (Saxophonist) Lol Coxhill, (Schlagzeuger) Laurie Allan, alle möglichen Leute, die um ihre Existenz kämpfen. Oder Monica Vasconcelos, eine Brasilianerin, die in London lebt, die könnte ein paar Gigs gut gebrauchen. Ihre Platte, auf der ich mitgespielt habe, ist eine der besten, an denen ich je beteiligt war. Es gibt schon immer wieder Umstände, die einen daran erinnern, dass manche Leute ein enormes Einkommen haben und andere nicht. Aber Pink Floyd oder David Gilmour machen ihre Millionen, nicht weil sie irgendjemanden ausbeuten oder weil sie rücksichtslose, kaltblütige Investoren sind, sondern weil Millionen Menschen seit Jahren ihre Platten mögen. Sie sind also reich, aber aus einem vollkommen anständigen, ehrwürdigen Grund. Einer wie Steve Lacy, der ein wunderbarer Sopran-Saxophonist war, hatte dagegen nie ein grosses Publikum. Aber es war sein Lebenswerk, und für mich klang es nicht mehr oder weniger wertvoll als jenes von Stevie Wonder. Ich bin also ganz zufrieden damit, mich in Sachen Einkommen und Hörerreichweite näher am Jazz- als am Rock-Ende der Skala zu bewegen. Meine Plattenverkäufe sind winzig im Vergleich zu denen von Rockmusikern. Als wir (Soft Machine) in den späten Sechzigern auf CBS waren, drückte der Typ, der sich bei der Firma für uns einsetzte, es einmal so aus: «Das Problem ist, dass CBS sich nicht entscheiden kann, ob ihr unsere sich am schlechtesten verkaufende Rockband oder unsere bestverkaufende Jazz-Band seid.» Ich für meinen Teil bin gern in dieser Grauzone zu Hause.

Und manchmal ziehen Sie andere mit hinein. Paul Weller zum Beispiel hatte Sie ja zuvor in Ihrer musikalischen Welt besucht, und auf seiner neuen Platte war es das erste Mal, dass Sie Ihre Welt in die seine mitnehmen konnten.

Ja, das stimmt.

Er fand das sehr aufregend.

Ich auch. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass er mich dazu einladen würde. Ich war ganz entzückt darüber. Was für ein liebenswerter Mann. Er ruft uns alle paar Monate an.

Vor kurzem haben Sie die Single «This Summer Night» mit Bertrand Burgalat veröffentlicht. Louis Philippe, der bei der Produktion dabei war, hat mir erzählt, Bertrand hätte bei Alfie eigentlich bloss um einen Text angefragt. Aber dann haben Sie ihm die ganze Melodie auf den Anrufbeantworter gesungen, also hat er Sie gebeten, doch gleich den Song für ihn einzusingen.

Das ist genau, was passiert ist. Es war ein ganz netter Zufall. Er hatte Alfie gefragt, ob sie einen Text für ihn schreiben könnte. Das war sehr nett, weil ihr das Texteschreiben wirklich Spass macht und ich ihr nicht genug Material liefere, an dem sie sich ihre Zähne ausbeissen kann. Sie schrieb also ein paar Texte für sein Album, das vor zwei Jahren rauskam, und kürzlich hat er ihr wieder ein paar Bänder mit Musik geschickt. Bei einem der Tracks war Alfie nicht ganz klar, was für spezifische Noten er hören wollte. Es war mehr so ein Backing Track mit einem gewissen Feeling. Mit seiner Erlaubnis versuchte ich eine Melodie festzulegen, die zu diesem Backing Track passte. Sie schrieb dazu die Worte, und ich sang das vor, um zu demonstrieren, was wir meinten. Er fragte mich, ob ich das einsingen wollte, und ich sagte Ja. Aber nur unter der Bedingung, dass auch er eine Strophe singen würde. Sein Einsatz ist jetzt meine liebste Passage in dem Song, weil er völlig aus dem Blauen auftaucht.

Die Nummer klingt ingesamt sehr leichtherzig. Viele Leute glauben ja, Ihre Musik wäre wegen Ihres künstlerischen Anspruchs automatisch ernsthaft. Aber «Be Serious» auf «Comicopera» war ein selbstironisches Statement. In Ihrer Musik gab es schliesslich schon immer diesen fröhlichen pop-freundlichen Aspekt.

Danke, dass Ihnen das aufgefallen ist. Ich würde nach Möglichkeit sehr gern noch viel mehr tanzbare Musik machen. Ich bin ein Eskapist. Ich finde den Mainstream der Wirklichkeit schwer zu verdauen. Und als Alfie mit dieser Geschichte eines One Night Stand daherkam, die die vage Atmosphäre eines Schwulendisco-Hits aus den späten siebziger Jahren versprüht, fand ich das äusserst charmant. Ich trenne nie das Ernste vom Unernsten, denn in meinem Leben sind die privaten Momente, in denen ich mir einfach Spass und Vergnügen gönne, genauso bedeutend und wichtig wie die historischen und gesellschaftlichen Umstände, in denen sie sich ereignen. Manchmal haben sie auch überhaupt kein Verhältnis dazu. Ich habe wenig Kontrolle darüber, was ich tue.

Wenn Sie sich die Liste Ihrer Platten im Verlauf der Jahre ansehen, dann gibt es da ein paar Jahre, in denen nichts passiert ist, und andere, in denen Sie sehr produktiv waren. Wo stehen Sie im Moment?

Es war ein schwieriges Jahr, weil wir in unserem Haushalt und unserem Privatleben ein paar grosse Hindernisse zu überwinden hatten. Ich arbeite derzeit an etwas, aber was den Schwung angeht, ist dieses Jahr für mich ein bisschen ein Jahr in der Wildnis. Das ist auch in Ordnung so. Ein bisschen Zeit in der Wildnis, ein bisschen Zeit an der Arbeit.

Was machen Sie im Moment hier gerade?

Ich mache was für den belgischen Künstler Jean Pierre Muller. Er macht Sound- Installationen und hat mehrere Musiker, die ihm dabei helfen. Ich sagte ihm Anfang des Jahres zu, dass ich das machen würde, also versuche ich das jetzt zu erfüllen. Aber das war’s auch schon. Da gibt es noch ein paar Ideen, die in der Gegend herumtreiben, aber das Leben selbst hat es mir nicht erlaubt, in meine Zone abzutauchen und lange genug dort zu bleiben, um mich wirklich in eines meiner eigenen Projekte zu vertiefen. Ich bin nur in der Gegend herumgedriftet und habe mich von der Gastfreundschaft anderer Musiker genährt. Eine Sache, auf die ich wirklich stolz war, das waren meine Harmoniegesang-Parts auf Billy Braggs letztem Album. Abgesehen davon, dass es wirklich nett ist, nach all den Jahren einmal mit ihm zu singen – er ist ein gemeinsamer Freund von mir und Paul (Weller) – hat er in seiner Band auch noch Ian McLagan von den Small Faces als Organisten mit dabei. Ich habe nun also sowohl mit Ian McLagan als auch auf einer der letzten Arbeiten von Rick (Wright) gesungen. Das ist für mich schon sehr aussergewöhnlich, mit diesen Leuten was gemacht zu haben. Aber ansonsten hat uns das Leben heuer einfach überholt. Mit Alfies Injektionen, und unserem Kampf, Haltung zu bewahren, während wir Alkohol und Zigaretten zugleich aufgegeben haben, das war alles ein bisschen viel.

Robert Wyatt, vielen Dank für dieses Gespräch.

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