1. M�rz 2012

Martin Scorsese: «Hugo»

…und so schliesst sich der Kreis

Der Roman «The Invention of Hugo Cabret» von Brian Selznick erzählt von den Hoffnungen eines Knaben und von den Pionieren der Filmkunst. Martin Scorsese hat aus dieser literarischen Vorlage einen der wunderbarsten Filme der letzten Jahre gemacht: «Hugo» ist eine visuell brillante Hommage ans Kino und dessen magische Fähigkeiten.

von Rudolf Amstutz
Ungleiches Paar: Hugo Cabret (Asa Butterfield) und Georges Méliès (Ben Kingsley). Foto: © Ascot Elite

Martin Scorsese ist mehr als nur ein Regisseur. Er ist ein Filmverrückter, dessen Augen zu glänzen beginnen, wenn er von den grossen Klassikern der Kinogeschichte zu sprechen beginnt. Egal, ob europäisches, japanisches oder amerikanisches Kino: Scorsese ist in Sachen Film ein wandelndes Lexikon, der das staunende Kind für die Magie der bewegten Bildern in sich bewahren konnte. Zum Film kam Scorsese früh. Da er als Junge unter Asthma litt, flüchtete er ins Kino oder betrachtete das Geschehen auf den Strassen New Yorks vom Fenster aus. Als 2007 der illustrierte Roman «The Invention of Hugo Cabret» von Brian Selznick erschien, las sich dieser für Scorsese wie eine fiktionale Abwandlung seiner eigenen Biographie.

Der Roman erzählt die Geschichte des Waisen Hugo, der in den 1930er Jahren im Pariser Bahnhof Montparnasse jeden Tag die unzähligen Uhren am laufen hält, und der – versteckt im Gemäuer lebend – hinter Ziffernblättern und Ritzen das Geschehen in der grossen Halle des Bahnhofs beobachtet. Und weil der Vater ihm einen aus unzähligen Uhrenteilchen gebastelten Automatenmann hinterlassen hat, den er partout nicht in Bewegung versetzen kann, beklaut er den im Bahnhof ansässigen Spielzeugverkäufer Georges Méliès. Der wiederum ist nicht irgendwer, sondern einer der Urväter der Filmkunst. Anfang des Jahrhunderts kreierte er in seinem eigens gebauten Studio aus Glas wundersame magische Augenblicke des Kinos, darunter auch sein Meisterwerk: «Le Voyage dans la lune» (1902), ein 16 Minuten dauerndes Science-Fiction Märchen. Méliès' Studio produzierte in jener Zeit Hunderte von Filmen und war damit die erste Traumfabrik, lange bevor Hollywood diesen Titel für sich beanspruchte.

Doch Hugo, im wahrsten Sinne des Wortes auf der Suche nach dem Schlüssel, der seinen Automatenmann in Bewegung versetzen soll, trifft statt des Magiers Méliès einen verbitterten, alten Mann, der ohne grosse Ambitionen und mehr schlecht als recht, sich seinen Lebensunterhalt mit mechanischem Spielzeug verdient. Hugo Cabret mag zwar eine Erfindung von Selznick sein, doch die Biographie des Filmemachers ist echt. In der Tat endete die Karriere von Méliès mit dem Anfang des Ersten Weltkriegs. Die Armee beschlagnahmte damals alle seine Filme. Sie wurden eingeschmolzen, um aus dem gewonnenen Rohstoff Schuhsohlen herzustellen.

Die Annäherung zwischen Hugo und Méliès wird zur Wiederauferstehung des Kinos und lüftet letztlich auch das Geheimnis des Automatenmannes. Martin Scorsese inszeniert diese vielschichtige Geschichte in grandiosen Bildern, die nur einer wie er erschaffen kann: Scorsese ist Hugo und Méliès, ist staunendes Kind und Magier in Personalunion. Und nebenbei einer, der solange von den Giganten des Kinos gelernt hat, bis er selber einer geworden ist. Als Protagonist des «New Hollywood» hat er gemeinsam mit Arthur Penn, Francis Ford Coppola oder William Friedkin den Neorealismus des europäischen Films in Hollywood etabliert und in Meisterwerken wie «Taxi Driver» (1976), «Raging Bull» (1980) oder «Goodfellas» (1990) zur Erfüllung gebracht. Nun schliesst sich der Kreis, indem er nicht nur in seine eigene Kindheit und zu den Anfängen des Kinos zurückkehrt, sondern dies auch mit Hilfe der modernsten Technik umsetzt. Das 3D-Verfahren nutzt er nicht, um Effekte billig zu verschenken, sondern um der Geschichte visuell eine magische Tiefe zu verleihen.

Bereits die Anfangssequenz von «Hugo» ist beeindruckend: Dank der Computertechnologie wird aus einem riesigen Uhrwerk die Stadt Paris aus der Vogelperspektive. Die Kamerafahrt hinunter in die Strassen der Seine-Metropole, hinein in die Gare Montparnasse, über den Bahnsteig hinweg durch die Ankunftshalle zeigt die poetisch anmutenden Möglichkeiten der Dreidimensionalität auf und ist gleichzeitig eine der vielen Hommagen des Films an die Pioniere des Kinos. Der erste öffentlich gezeigte Film war 1895 jener der Gebrüder Lumière, der nichts weiter zeigte, als einen in den Bahnhof einfahrenden Zug. Nun «fliegen» wir als Publikum über den Zug hinweg und reagieren dabei ähnlich bewegt auf diesen magischen Effekt wie einst unsere Vorfahren.

Und trotz dieser gigantischen technischen Mittel, die bei «Hugo» verwendet werden, verliert sich der Film nie in blossen Spielereien. Im Gegenteil: Scorsese inszeniert den Alltag im Bahnhof als Abbild der ganzen Welt, als Mikrokosmos der Gefühle, zum Leben gebracht durch allerlei Figuren, die er wie ein Maler  durch kleine, aber raffinierte Pinselstriche so einleuchtend charakterisiert, dass sie trotz ihrer Nebenrollen voller Leben sind: der griesgrämige, aber eigentlich schüchterne und einsame Stationsvorsteher (Sacha Baron Cohen), das introvertierte Blumenmädchen (Emily Mortimer), der liebevolle, aber etwas ungeschickte Zeitungsverkäufer Monsieur Frick (Richard Griffiths), der mondän und geheimnisvoll wirkende Buchhändler Monsieur Labisse (Christopher Lee) oder die eisern zu Méliès haltende Mama Jeanne (Helen McCrory) und ihr wohlerzogenes Mündel Isabelle (Chloë Grace Moretz) – sie alle sind Mosaikstücke in diesem funkelnden Kaleidoskop. Ben Kingsley ist brillant als desillusionierter und in Vergessenheit geratener Filmpionier und der junge Asa Butterfield beeindruckt als Hugo, der trotz Abgebrühtheit und Melancholie stets auch staunendes Kind geblieben ist.

Über «Hugo» liesse sich noch viel erzählen. Man könnte sich auf die Suche machen nach all den Reminiszenzen an die Filmgeschichte. An Momente, die flüchtig an Max Ophüls erinnern,  die Absurditäten eines Jacques Tati aufleben lassen oder die stupende Komik eines Harold Lloyd. Aber auch ohne all diese Doppelbödigkeiten, gelingt «Hugo» Eindrückliches: er vermag Menschen jeden Alters zu verzaubern. Und Hollywood erhält dank Martin Scorsese einen Teil der verlorenen Unschuld zurück und wird zumindest während zweier Stunden wieder zu dem, was es einmal war: die Traumfabrik schlechthin.

#-#IMG2#-##-#SMALL#-#«Hugo». USA 2011. Regie: Martin Scorsese. Drehbuch: John Logan, basierend auf dem Roman «The Invention of Hugo Cabret» von Brian Selznick. Kamera: Robert Richardson. Musik: Howard Shore.

Mit: Ben Kingsley (Pappa Georges/Georges Méliès), Sacha Baron Cohen (Station Inspector), Asa Butterfield (Hugo Cabret), Chloë Grace Moretz (Isabelle), Ray Winstone (Uncle Claude), Emily Mortimer (Lisette), Helen McCrory (Mama Jeanne), Christopher Lee (Monsieur Labisse), Michael Stuhlbarg (René Tabard), Frances de la Tour (Madame Emilie), Richard Griffiths (Monsieur Frick) und Jude Law (Hugo’s Father).

Trailer »

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