Rückblick auf das Jahr 2014
Das Business ist tot, es lebe die Musik
2014 war das Jahr, in dem das Platin obsolet wurde und die neugewonnene Unabhängigkeit kreatives Potenzial freisetzte. Ein Rückblick und unsere Wahl der besten zwölf Alben sowie der sechs besten Archivaufnahmen des vergangenen Jahres.
von Rudolf AmstutzPünktlich zum Ende des Jahres veröffentlicht die französische Kulturzeitschrift Les Inrockuptibles jeweils ihre Wahl der hundert besten Alben. Dieses Mal liess es sich die Redaktion nicht nehmen, das Resultat auch in einer Statistik zusammenzufassen. Neben nicht weiter erstaunlichen Zahlen (die meiste Musik stammt aus den USA, Frankreich folgt mit Grossbritannien ex aequo auf Platz Zwei) lässt ein Vergleich doch aufhorchen: 89 der genannten Platten wurden auf unabhängigen Labels veröffentlicht und nur deren elf auf einer der grossen Plattenfirmen.
Es ist während der letzten Dekade zur leidigen Tradition geworden, beim Rückblick auf ein Musikjahr auch das langsame Sterben der Industrie zu dokumentieren. Damit ist nun Schluss: das Business ist de facto tot. In den USA wurde Ende Oktober bereits vorausgesagt, dass 2014 zum ersten Jahr werden würde, in dem es kein einziger Künstler schaffen wird, Platin für eine Million verkaufter Exemplare zu ergattern. In einem Land mit 320 Millionen Einwohnern war diese Bestmarke in den ersten drei Quartalen nur vom Disney-Soundtrack «Frozen» erreicht worden, bevor dann im November die industrielle Erleichterung folgte und Taylor Swift mit «1989» auch zum begehrten Edelmetall kam. Solche Zahlen sind erstaunlich, weil doch auch Beyoncé und Pharrell Williams um die Gunst des Publikums buhlten, beides Protagonisten, die der Industrie noch vor ein paar Jahren üppigen Geldsegen garantierten.
Die unaufhaltsame technische Entwicklung hat dazu geführt, dass der Wunsch, ein Buch, eine Platte oder auch einen Film zu besitzen von der Mehrheit der Konsumenten nicht mehr verspürt wird. «Zeige mir deine Plattensammlung, und ich sage dir, wer du bist» hat längst keine Gültigkeit mehr. Man definiert sich heute nicht mehr über den künstlerischen Geschmack, sondern über die Anzahl Facebook-Freunde oder die Höhe der Retweets. Dass im Zeitalter der Selbstinszenierung die ganz Grossen der Popkultur ihre Halbwertszeit halten können, gelingt ihnen nur, in dem sie sich der Eventisierung der Kultur unterordnen und jedes Jahr mit noch aufwändigeren Liveshows den Kunden bei der Stange halten. Vom Tonträger und seinem virtuellen Pendant dagegen lässt sich längst nicht mehr leben. «Happy» von Pharrell Williams wurde auf dem Streaming-Dienst von Pandora 2014 zwar 43 Millionen Mal kostenpflichtig abgerufen, doch für den Urheber ergaben sich daraus Einnahmen von lediglich 2’700 Dollar.
Wie ernsthaft gestört die Beziehung zwischen Industrie und Konsument ist, zeigt das Beispiel von U2. Ihr letztes Album «Songs of Innocence» wurde kostenlos jedem iTunes-Kunden von Apple abgegeben, was nicht etwa Begeisterung auslöste, sondern eine Welle der Bestürzung. Das Misstrauen gegenüber den Mächtigen ist mittlerweile so gross, dass hinter solch harmlosen PR-Aktionen böse Machenschaften vermutet werden. Von der Musik war nie die Rede, die künstlerische Substanz hinter dem Event wurde kaum rezensiert und es war dem altehrwürdigen Magazin «Rolling Stone» vorenthalten, das Album völlig losgelöst vom medialen Getöse zu besprechen und zuletzt gar zum Album des Jahres zu küren. Von dieser Art der glücklichen Wendung kann Thom Yorke, immerhin kultisch verehrter Sänger von Radiohead, nur träumen. Sein Solowerk «Tomorrow’s Modern Boxes» veröffentlichte er exklusiv über das Downloadportal BitTorrent und stiess auf kollektives Schweigen. Falsches Timing sowie die nicht erfüllte Hoffnung, dass seine Fans auch im virtuellen Zeitalter ihren Treueschwur nicht brechen würden, machten sein Album zur am schnellsten vergessenen Veröffentlichung aller Zeiten.
Doch wie sang schon der Ostschweizer Liedermacher Manuel Stahlberger: «Jedä Scheiss isch ä Chance». 2014 haben sich dieses Motto eine Vielzahl von Musikerinnen und Musikern zu Herzen genommen, sich von den strategischen Notwendigkeiten des Marktes verabschiedet und einen Gang runter geschaltet. Wer sich ein wenig bemühte und sich auf vertrauensvollen Internetportalen oder gar in einem der letzten noch existierenden, kleinen Plattenläden über den Stand der Dinge informierte, stiess auf manche musikalische Perle.
Etablierte, legendäre und ergraute Namen schienen befreit von der Tatsache , sich nicht mehr der Masse anbiedern zu müssen. Robert Plant forschte auf «Lullaby And… The Ceaseless Roar» ohne Druck an einer Verbindung zwischen Folk, Hardrock und Weltmusik, Leonard Cohen genoss mit «Popular Problems» im Stillen seinen 80. Geburtstag, Mary J. Blige entledigte sich der Gleichförmigkeit eines massentauglichen Produktes und erfuhr mit «The London Sessions» eine neue Lust am Soul. Und Beck gelang mit «Morning Phase» ein stilles, introvertiertes Kunstwerk abseits der Schlagzeilen.
Singer/Songwriter entlockten dem Lied als Kunstform neue Seiten. Hurray For The Riff Raff aus New Orleans intonierten auf «Small Town Heroes» wundersame poetische Balladen, Annie Clark alias St. Vincent gelang es auf «St. Vincent», Eingängigkeit mit Komplexität, Elektronik mit virtuosen Gitarren und Ernsthaftigkeit mit Humor zu verbinden. Die Bieler Band Death by Chocolate verblüffte mit Reife und Gespür auf «Among Sirens», die junge Britin FKA twigs liess mit «LP 1» erahnen, wie Soul, Funk und Elektronik in Zukunft klingen würden und der Klangtüftler Flying Lotus, seines Zeichens Neffe von John Coltrane, erinnerte mit seinem stilistischen Gebräu namens «You’re Dead» an den Miles Davis der 1970er Jahre. Selbst der Hip-Hop zeigte sich 2014 putzmunter, mit grossartigen Alben von The Roots, YG, Run The Jewels (EL-P und Killer Mike) und Freddie Gibbs & Madlib.
Das Ereignis schlechthin war aber kurz vor Weihnachen die gloriose Rückkehr von Soulstar D’Angelo nach fast 15jähriger Pause: Mit «Black Messiah» präsentierte er nicht nur ein grosses und komplexes Album, sondern unterstrich im Schatten des bürgerlichen Widerstandes gegen die Polizeigewalt in den USA auch die gesellschaftspolitische Relevanz, die Musik heute noch zu besitzen imstande ist.
So nehmen wir zwar am Ende dieses turbulenten Jahrgangs schweren Herzens Abschied von Giganten wie Pete Seeger, Charlie Haden, Jack Bruce, Paco de Lucia, Bobby Womack oder Joe Cocker (um nur einige zu nennen), blicken aber wie schon lange nicht mehr hoffnungsvoll in die Zukunft. «Jedä Scheiss isch ä Chance». Das Business ist tot. Es lebe die Musik. Und 2015 darf kommen.
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Editor's Choice Top Twelve 2014
Die Jahresbestenliste der Redaktion (in alphabetischer Reihenfolge): ein eklektischer Mix aus Jazz, Experimental, Soul, Hip-Hop, Fusion, Rock und einem Hauch Südamerika (Brasilien, Argentinien):
Ambrose Akinmusire: The Imagined Savior Is Far Easier To Paint (Blue Note)
#-#SMALL#-#Interview in TheTitle »
The Imagined Savior Is Far Easier To Paint (EPK) »#-#SMALL#-#
Neneh Cherry: Blank Project (Smalltown Supersound)
#-#SMALL#-#«Blank Project» (Video) »#-#SMALL#-#
D’Angelo: Black Messiah (RCA)
#-#SMALL#-#zum Artikel in TheTitle »#-#SMALL#-#
Flying Lotus: You’re Dead (Warp)
#-#SMALL#-#Artikel über FL-Cousin Ravi Coltrane in TheTitle »
«Never Catch Me» ft. Kendrick Lamar (Video) »#-#SMALL#-#
Romulo Fróes: Barulho Feio (YB Music, Brasil)
#-#SMALL#-#«Ó» (Video) »#-#SMALL#-#
Eduardo Herrera & Zelmar Garín: Ahí Vienen (Noseso Records, Argentina)
#-#SMALL#-#«Ahí vienen!» (Audio – disco completo) »#-#SMALL#-#
Robert Plant: lullaby and... The Ceaseless Roar (Nonesuch)
#-#SMALL#-#«Returning to the Borders: A Short Film» »#-#SMALL#-#
The Roots: …and then you shoot your cousin (Def Jam)
#-#SMALL#-#«...and then you shoot your cousin» (EPK) »#-#SMALL#-#
Wadada Leo Smith: The Great Lakes Suites (TUM Records)
#-#SMALL#-#«Lake Michigan» (Audio) »#-#SMALL#-#
Swans: To Be Kind (Young God Records)
#-#SMALL#-#«To be Kind: A Short Film» »#-#SMALL#-#
Scott Walker + SunnO))): Soused (4AD)
#-#SMALL#-#«Brando» - a Film by Gisèle Vienne »#-#SMALL#-#
Jack White: Lazaretto (Third Man)
#-#SMALL#-#«High Ball Stepper» (Video) »#-#SMALL#-#
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Editor's Choice Top 6 Archive Releases
Alain Bashung: Fantaisie militaire – Super Deluxe Edition (Barclay)
Captain Beefheart: Sun Zoom Spark: 1970–72 (Rhino)
John Coltrane: Offering: Live at Temple University (Impulse)
Miles Davis: Miles At The Fillmore 1970: The Bootleg Series Vol. 3 (Columbia)
Bob Dylan and The Band: Bootleg Series Vol. 11: The Basement Tapes Complete (Columbia)
Joe McPhee: Nation Time: The Complete Recordings (Corbett Vs Dempsey)