6. November 2007

DOSSIER: SOFT MACHINE – Jazzrock

Musik nur für Cocktail-Bars und Virtuositäts-Machos?

Eigentlich müsste es die aufregendste Musik überhaupt sein: der adoleszente Sturm und Drang des Rock, gekoppelt mit dem musikalischen Abenteuergeist des Jazz. Doch Jazz-Rock ist und bleibt ein ambivalentes Ding wie dessen Geschichte zeigt.

Von Hanspeter Künzler
Miles Davis. Foto: Columbia Records

Er gehört zu den prägenden Momenten meiner Jugend. Ich stand im «Musik Hug» am Zürcher Limmatquai und durchforstete die «Aktionen». Zwei – wie es am Stammtisch geheissen hätte – «ganz normale Typen» mit vernünftig gescheiteltem Haar und womöglich einer Krawatte fingen neben mir an, die neuesten Musiknoten durchzublättern. Sie stiessen auf Pink Floyd. «Pfft!» sagte der eine, nachdem er das Heft auf zwei, drei verschiedenen Seiten aufgeschlagen hatte: «Das ist ja alles läppisch simpel!» Der andere stimmte zu: «Ja. Total enttäuschend.» sagte er.

In dem Moment wusste ich, dass Pink Floyd im Recht waren, und dass mir all die anderen Gymnasiasten mit ihren Alben vom Mahavishnu Orchestra und von Stomu Yamash’ta gestohlen bleiben konnten. Dieser instinktive Entschluss versetzte mich mit einem Schlag in die Opposition praktisch zum ganzen Schulhaus. Denn dort galt Jazz-Rock und Prog-Rock gemeinhin als das A und O moderner Musik. Natürlich hörte niemand «richtigen» Jazz – das war altmodisch. Im Grunde waren sie nämlich Rockfans – Rockfans mit einem Minderwertigkeitskomplex. Um das zu verstehen muss man versuchen, sich die Schweizer Musiksituation in der ersten Hälfte der siebziger Jahre vor Augen zu halten. Radio «Beromünster» brachte gerade einmal in der Woche – so gegen Mitternacht – Rocksounds, die keine Pop-Hits waren. In Sachen Musikpresse gab es Jürg Marquards so neues wie biedermännisches «Pop», aus dem Ausland kam die «Bravo» – und «Sounds», die einzige deutschsprachige Musikzeitschrift, die man lesen konnte und der man Neuentdeckungen nicht zuletzt im Krautrockbereich zu verdanken hatte.

Am TV gab es vom September 1965 bis im Dezember 1972 den «Beat Club» und danach die eine oder andere Nachfolgesendung im gleichen Geist. Nichts aber war zu vergleichen mit New Musical Express und Melody Maker, die jeden Donnerstag und mit zwei Wochen Verspätung exklusiv in drei Exemplaren ins Regal des Kioskes im Zürcher HB geklemmt waren. Jedes Mal wieder strotzten diese Zeitungen, nach deren Lektüre man ganz schwarze Finger hatte, von neuen Namen, spannenden Querverbindungen und Besprechungen von Platten, die in ganz Zürich niemand haben würde, ausser Henry in seinem Hinterhofshop im Dörfli oder Ingo, der seinen BRO-Shop erst gerade lanciert hatte, und zwar im Korridor einer winzigen Wohnung in Wollishofen. Kurzum: die Rockkultur war in der Schweiz und weiten Teilen des restlichen Kontinentaleuropas ein Underground-Phänomen. Kaum eine Plattensammlung reichte über die grossen Namen hinaus, selbst wenn der kühne deutsche «Krautrock» Grossartiges hervorbrachte und auch in Frankreich viel am Tun war. Es war zudem ein Phänomen, das von den älteren Generationen gern als Jugendsünde verlacht wurde. Wer mit dreiundzwanzig immer noch Rock hörte, statt zur Klassik oder zum Jazz avanciert zu sein, galt gemeinhin als zurückgeblieben. Nun hatten sich die zwei- bis dreiminütigen Yeah-Yeah-Lieder im Stile der Beatles, der Stones und der Beach Boys längst als Schablone des konventionellen Hitparadenschaffens etabliert. Andererseits hatten so diverse Bands wie Cream, Led Zeppelin, Nice, Incredible String Band, Can, Jimi Hendrix Experience, Amon Düül 2 und Frank Zappas Mothers of Invention ihre Fühler über die Horizonte der Blues- und Rock’n’Roll- stämmigen Musik hinausgestreckt. Selbstverständlich war man bei der Suche nach frischen Ideen und neuen Einflüssen auch beim Jazz angelangt. Und im Jazz herrschte gerade Krisenstimmung. 1967 war John Coltrane gestorben, ein Revolutionär, der, ausgehend von den lang etablierten rhythmischen und melodischen Konventionen, mittels mutigen Improvisationen in gänzlich neue, «freie» Gefilde vorgedrungen war. Trane stand mit einem Fuss noch in der Tradition, mit dem anderen im Free Jazz und konnte so auch von konservativeren Jazz-Fans noch goutiert werden.

Musiker wie Ornette Coleman, Albert Ayler oder Cecil Taylor gingen beim Untergraben konventioneller Tonalitäten noch einen Schritt weiter – ihre Musik (und womöglich auch ihre Politik: Free Jazz wurde nicht zuletzt mit der Völkerrechtsbewegung und Black Power in Zusammenhang gebracht) verführte die Traditionalisten dazu, das Ende des Jazz für gekommen zu erklären. Es konnte ihnen auch nicht gefallen, dass jetzt ein Bürgerschreck wie Frank Zappa seine Musik mit dissonanten Jazz-Bläsereien und Gitarren-Riffs durchsetzte. Anderswo hatte der Gitarrist Larry Coryell bereits 1966 eine Band – Free Spirits – gegründet, deren Jazz mit Rockdynamik daherkam. Und dann war da noch Miles Davis. Der einstige Be-Bopper, der in den mittleren fünfziger Jahren an der Seite von Coltrane mit seinem Miles Davis Quintet Grosses geleistet hatte, war unterdessen auf den Geschmack von Jimi Hendrix und James Brown gekommen und hatte seine Band elektrifiziert. Unter anderen mit Joe Zawinul, Chick Corea, Herbie Hancock (alle Keyboards), John McLaughlin (Gitarre) und Tony Williams (Drums) spielte er 1969 zuerst «In A Silent Way», dann mit einer erweiterten Band (Jack DeJohnette, Airto Moreira, Wayne Shorter) «Bitches Brew» ein. Derweil das Jazz-Establishment diesen Krach natürlich für verwerflich und jugendschädigend hielt, entpuppte sich «Bitches Brew», veröffentlicht im April 1970, als Bestseller. Ja, Avantgarde- Jazz-Platten konnten Bestseller sein. In der Tat hatte 1969 Frank Zappa mit dem komplexen, jazzigen Instrumental- Album «Hot Rats» in England die Pop-TopTen geknackt!

Kehrseite der Medaille

Alle Musiker, die bei Miles’ ersten beiden Elektro-Jazz-Alben mitgespielt hatten, taten sich in der Folge als Pioniere von Jazz-Rock und Jazz-Funk (Herbie Hancock) oder «Fusion» (Weather Report) hervor. Derweil aus diesem Bereich gewiss viel aufregende Musik hervorging, zeigt schon ein qualvolles Wiederauflegen von John McLaughlins «Birds of Fire» aus dem Jahr 1973 (Top 20 in den USA und in Grossbritannien), warum «Fusion» so schnell zum Schimpfwort verkam. Die Stücke lassen mit gänzlich unironisch gemeinten Titeln wie «Celestial Terrestrial Commuters», «Sapphire Bullets of Pure Love» oder «Thousand Island Park» keinen Zweifel darüber offen, dass die Musiker meinten, auf einer höheren Geistesebene zu wandeln. Dann aber die Musik: oh weh! Sie klingt, als ob die beteiligten Musiker – McLaughlin (Gitarre), Rick Laird (Bass), Billy Cobham (Perkussion), Jan Hammer (Keyboards), Jerry Goodman (Geige) – unter striktestem Onanierverbot ein Jahr lang in einer Zelle geübt hätten, um sich die aufgestauten Macho-Gelüste jetzt in einem Sturm von überschallschnellen Riffs und unmöglichen Tempi gegenseitig um die Ohren zu hauen.

Dem Mythos zum Trotz waren die Sixties nur beschränkt eine Zeit der sexuellen Befreiung. Die Pille bedeutete vorerst fast nur die Befreiung des Macho-Mannes. Während also Led Zeppelin mit viel Radau, Haar und Hirschröhren Potenz markierten (und nebenbei auch noch schöne Musik machten) konnten viele Jazz-Rocker der Verlockung nicht widerstehen, mittels unglaublich diszipliniert eingeübter Fingerfertigkeit zu zeigen, wie dick ihr metaphorischer Phallus war. Das Publikum – fast ausschliesslich junge Männer, wenn ich mich recht erinnere – wusste das zu schätzen. Es war ja auch eine höchst wirksame Ego-Salbe: schliesslich brauchte es einen erheblichen (Macho-) Intellekt, den emotionellen, zerebralen und physischen  Komplexitäten dieser Musik zu folgen. Viel mehr Intellekt jedenfalls, als es das weltfremde Aufgehen in der «läppischen Simplizität» von Pink Floyd erforderte. Und weil es ja Jazz, nicht Rock war, hatte die Musik erst noch den Vorteil, dass man sich als 17-jähriger Mahavishnu-Fan auch reifemässig dem restlichen Schulhaus grandios überlegen fühlen durfte.

Elevator- und Shopping-Music

Es gab noch anderen Jazz-Rock. Blood, Sweat & Tears und Chicago lockerten ihren Pop-Rock mit Jazz-Bläsereien auf, die man bei den Big Bands ausborgte. Steely Dan und ein Haufen Nachahmer brachten ebenfalls Jazz-Melodik in die Charts ein. Der Macho- Jazz-Rock in der oben beschriebenen Art ging mit ihrem Ende als Modeströmung beileibe nicht unter (ja, noch heute begegnet man in den einschlägigen Jazz-Kellern mancher Jazz-Rock-Combo, deren einziges Talent im ewigen Üben besteht). Hingegen machte ein anderer Ableger von Miles Davis’ und Herbie Hancocks Fusion-Experimenten seine Vertreter noch viel reicher: der superseichte, elektrische Cocktail-Jazz im Stil von Spyro Gyra, Grover Washington Jr., George Benson oder gar Saxophonist Kenny G. ist aus den heutigen Supermarkets, Liften und TV-Quiz-Shows nicht mehr wegzudenken.

Derweil der aus Miles Davis’ Muse herausgewachsene Jazz-Rock die Fusion aus der Perspektive des Jazz anging, gab es insbesondere in Grossbritannien und auf dem europäischen Kontinent viele Bands, die den umgekehrten Weg begingen oder deren Mitgliedschaft sowohl aus Jazz- wie auch Rockmusikern bestand. Die Pioniere Soft Machine werden in diesem Dossier angemessen gewürdigt. Besonders bemerkenswert sind aber die diversen genre-sprengenden Alben von Mike Westbrook: nebst seinen diversen Big Band-Projekten führte er die Rock-Combo Solid Gold Cadillac, bei der unter anderen der heute vorab in der Freien Improvisations-Szene tätigen Sänger Phil Minton und die Gitarristen Brian Godding und Chris Spedding mittaten. Unter dem Namen Centipede versammelte anderswo der Pianist Keith Tippett eine Big Band, deren aufregendes Doppelalbum auf Neon erschien, dem gleichen raren Plattenlabel, wo nebst den jazzigen Folkies Dando Shaft auch Chris McGregor’s grossartige Afro-Jazz-Fusion-Big-Band Brotherhood of Breath daheim war. Pianist Tippett trat auch auf dem faszinierenden King Crimson-Album «Islands» auf, derweil seine Angetraute Julie Tippett (früher Julie Driscoll) 1975 das Album «Sunset Glow» veröffentlichte, das – wie die seelenverwandten Henry Cow und Comus – weder Jazz noch Pop noch Rock noch kontinentaleuropäische Theatermusik war, sondern irgendwie alles zusammen – und damit eine neue Form von Fusion.

Bands wie Nucleus, If! und Colosseum mit Saxophonist Dick Heckstall-Smith jazz-rockten zumindest in ihren Anfängen mit Gusto jenseits der Klischees. Ganz zu schweigen von Querschlägern wie dem Saxophonisten Lol Coxhill: als dieser im Zürcher Volkshaus das Vorprogramm der Hippie-Truppe Quintessence bestritt, ging das Hupen seiner zu dritt gespielten Saxophone den Securitas-Wächtern derart auf den Keks, dass sie ihn unter ihre Schultern packten und durchs Publikum hinaus auf die Strasse trugen. Seit vierzig Jahren versuchen immer wieder neue Musikergenerationen, Jazz und Rock einander näher zu führen. Was dabei auffällt ist, dass sich die Rockszene beim Jazz zumeist nur melodische Elemente ausgeborgt hat, während die Jazzer Rockeinflüsse oft nur zum Anlass nehmen, ihre Rhythmen zu vereinfachen. Bands wie Grateful Dead haben bekanntlich die Kunst der Improvisation erfolgreich in den Rahmen ihres psychedelischen Rock übersetzt. Ansonsten sind die stundenlangen Soli, mit denen uns selbstverliebte Jazz-Rocker in den siebziger Jahren das Leben beträchtlich erschwerten, längst wieder den Zehnsekunden-Soli gewichen, mit denen schon Chuck Berry seine Lieder auflockerte. Dennoch ist es überraschend und auch ein bisschen enttäuschend, dass die Rockszene, die sich ja für unglaublich abenteuerlustig hält, sich in den letzten Dekaden so selten den aufregenden Anstössen bediente, die gerade in den freieren Formen des Jazz zu finden wären. Und wenn sich einmal eine Band in solche Gefilde vorwagte, war ihr ein Mauerblümchendasein fast sicher.

Die «Unverbesserlichen»

Ein unverbesserlicher Pionier in Sachen Improvisation ist zum Beispiel Robert Fripp, der mit King Crimson einst die archetypische Progressive-Rock-Band führte (eine der wenigen alten Prog-Rock-Bands übrigens, deren Musik auch mit dem Ohr von heute noch zu geniessen ist, ohne dass man partout die Nostalgie bemühen müsste). Heute verlegt Fripp seine Musik grösstenteils selber. Der ultrafleissige New Yorker Komponist und Saxophonist John Zorn geht seit den Siebzigern konsequent seinen eigenen Weg und verlegt die Erzeugnisse seiner eigenen Muse und auch die von vielen Geistesverwandten auf dem Label Tzadik. Musikalisch ihm anverwandt sind nicht zuletzt die Gitarristen Marc Ribot, Bill Frisell und vor allem der unvergleichliche Nels Kline. Von den anderen New-Wave-Bands, die sich mit Jazz beschäftigten, bleiben vor allem Rip Rig & Panic in der Erinnerung haften. Zu der in Bristol formierten Gruppe gehörten neben einer jungen Neneh Cherry Ex-Pop-Group- Saxophonist Gareth Sager und Pianist Mark Springer. Die Band machte anfangs der achtziger Jahre drei Alben, die in ihrer unbekümmerten Kühnheit noch heute frisch wie am ersten Tag klingen. Aber welch Schande: sie sind nicht auf CD erhältlich. Immerhin wandelt der mit einem gewaltigen Haarschopf gesegnete englische Drummer Sebastian Rochford heute in den Fussstapfen ihres Freigeistes. So listet die MySpace-Seite seiner Band Polar Bear – es ist eine  von vielen grundverschiedenen Gruppen, bei denen er mitwirkt – als Einflüsse unter anderen folgende Namen auf: Deerhoof, Pig Destroyer, Thelonious Monk, Beethoven, Radiohead, Duke Ellington und Venetian Snares.

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Das MySpace-Profil von Sebastian Rochfords Band Polar Bear »

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