27. Mai 2013

Begegnung mit: Ravi Coltrane

Von der Verpflichtung, fremdes Terrain zu erforschen

Wer denkt, es sei eine Bürde, der Nachkomme eines musikalischen Giganten zu sein, liegt falsch. Ravi Coltrane beweist auf seinem aktuellen Album «Spirit Fiction», dass ein grosses Erbe auch zu neuen Ufern führen kann. Ein Besuch beim Sohn von John Coltrane in Brooklyn.

Interview: Rudolf Amstutz
Ravi Coltrane by Deborah Feingold. © Blue Note

«Ich wünschte mir, dass die Menschen, gerade die Politiker, wieder vermehrt ihre Gemeinsamkeiten herausstreichen und sich nicht permanent bekämpfen würden», sagt Ravi Coltrane. Zur Politik als Gesprächsthema in einem Haus, das ansonsten nur von Musik erfüllt ist, kam es, weil über dem Kamin seines Hauses in Brooklyn eine Fotografie hängt, auf der man ihn und seine Frau Kathleen gemeinsam mit Barack und Michelle Obama sieht. Ravi Coltrane überreicht darauf dem Präsidenten ein Porträt seines Vaters John. «To Ravi. From a huge fan of your father’s. Barack Obama» lautet die Inschrift auf dem Foto, auf die er nicht ohne Stolz hinweist.

Die Anwesenheit John Coltranes ist nicht zu übersehen. Ein Bild seines Vaters, die jüngsten Neuausgaben seines Gesamtwerkes, zu denen er als Erbverwalter die Linernotes geschrieben hat, zeigen deutlich, dass sich Ravi von der Übergrösse von «Trane» nicht beirren lässt. Zudem könnte bei der Masse an Jazzporträts und Platten genau so gut Miles Davis oder Charlie Parker sein Verwandter sein.

John Coltrane starb als Ravi zwei Jahre alt war, dies ist mit ein Grund, weshalb er den berühmten Namen nicht als Bürde versteht. «Für mich bedeutet John Coltrane Inspiration. Eine Last habe ich nie empfunden, obwohl ich verstehen kann, dass die Leute es seltsam finden, wenn da der Sohn eines Giganten daher kommt und dann auch noch dasselbe Instrument spielt», meint er und fügt lachend hinzu: «Wenn der Sohn von Miles mit einer Trompete die Bühne betreten würde, wäre ich wohl auch etwas irritiert.»

Sobald man sich die ersten Töne von «Spirit Fiction», seines insgesamt sechsten Albums als Leader, anhört, weiss man, dass man sich um Ravi Coltrane keine Sorgen zu machen braucht. In den letzten zehn Jahren hat sich der Saxophonist mit seinen Formationen zu den stilistischen Randgebieten vorgearbeitet und dabei längst seine eigene Stimme gefunden. Mit langjährigen Weggefährten wie dem Pianisten Luis Perdomo, dem Trompeter Ralph Alessi oder der Pianistin Geri Allen sowie dem Saxophonisten Joe Lovano, der für Coltrane die Rolle eines väterlichen Freundes hat, verweigert er sich auf dieser Platte jeglicher Art von Nostalgie. Das einzige, was an seine Herkunft erinnert, ist die Wärme und die lyrische Tiefe seines Spiels, das nicht nur an die späten, fast spirituellen Werke seines Vaters erinnert, sondern auch an das Vermächtnis seiner Mutter Alice, die selbst Musikerin, den experimentellen Pfad ihres Ehemannes auf zahlreichen eigenen Platten weiter erkundet hat.

«Meine Eltern hatten nicht nur den Willen, risikoreiches musikalisches Neuland zu erforschen. Sie hatten gleichzeitig auch diesen intuitiven Drang, die Menschen mit ihrer Musik zu umarmen. Das hat mich geprägt», erklärt er und weist auf seine einzigartige Kindheit hin, in der er nicht nur mit Coltrane-Mitmusikern wie Rashied Ali in Kontakt kam, sondern auch «stets die Wärme und Fürsorge meiner Mutter verspürte, die uns Kinder ermutigte, egal, was wir machen wollten. Hauptsache, wir hatten uns Ziele gesteckt, die uns in eine positive Zukunft führen würden.»
Der Geist von Alice ist präsent im hauseigenen Studio, wo ihr Steinway-Flügel ebenso seinen Platz gefunden hat wie das Saxophon seines Vaters und eine Bassklarinette, die einst Eric Dolphy gehörte. Im Wohnraum hat derweil sein jüngster Spross sein Kinderschlagzeug prominent vor dem Kamin platziert. «Er hatte sich sehnlichst ein Schlagzeug gewünscht», schmunzelt der Vater. «Jetzt, da er eines hat, nimmt er es mit dem Üben nicht mehr so ernst».

Es wird – wenn überhaupt – wohl noch eine Weile dauern, bis die dritte Generation Coltrane eine Musikerkarriere in Angriff nehmen wird. Immerhin gehört Ravi Coltrane selbst als 48-Jähriger noch zu einer jüngeren Generation, die ihren Weg noch längst nicht als abgeschlossen betrachtet. Auch wenn «Spirit Fiction» klingt, als hätte er gemeinsam mit seinem Kollektiv den passenden Klangraum gefunden: der Schöpfer dieser Musik sieht die Platte eher als Schnappschuss eines nicht enden wollenden kreativen Prozesses. «Ich denke, gerade als Jazzmusiker sollte es unsere Verpflichtung sein, permanent über die Grenzen der gelehrten Geschichte hinauszugehen und soweit in fremdes Terrain vorzustossen, wie es uns möglich ist. Wir sind verpflichtet, uns unserer Vorstellungskraft zu stellen und sollten nicht bloss die Dinge, die die Leute sowieso schon kennen, so virtuos wie möglich spielen.»

Natürlich ist er stolz, dass sein Album auf dem Label Blue Note erschienen ist, bei dem 1957 «Blue Trane» erschien, eines der legendären Alben seines Vaters. Doch er weiss, dass die heutige Plattenindustrie nicht jedem Musiker die totale Freiheit gibt. Deshalb gründeten er und seine Frau RKM Music, ein Label, auf dem Musiker ihrer Kreativität freien Lauf lassen können. «Die Plattenfirmen haben eine bestimmte Vorstellung davon, wie ein Album heute zu klingen hat. Zudem sollte der Musiker im Falle von Jazz natürlich mit einer All-Star-Formation auftrumpfen können. Würde Charlie Parker heute leben, er hätte echt Mühe, einen Plattenvertrag zu finden».

Für Ravi Coltrane hat die Geschichte genug gezeigt, dass oft erst sehr viel später die Bedeutung einzelner Alben erkannt wurde: «Nehmen wir nur Wayne Shorter. Was der Mann komponiert hat, angefangen bei Art Blakey und später für Miles Davis und auch heute noch, ist so unglaublich, das ganze Ausmass lässt sich beim ersten Hören gar nicht erfassen. Wenn ich mal in diese Sphären vorstossen kann, dann bin ich sehr sehr glücklich», strahlt er. Dort in diesen Sphären wäre er dann auf Augenhöhe mit seinem Vater. Und wer weiss, wenn sich der Nachwuchs wieder entschliesst, sich an die Drums zu setzen, werden weitere mit dem grossen Namen Coltrane dorthin folgen.

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Ravi Coltrane. Spirit Fiction. Blue Note.

Ravi Coltrane Quartet: «Between Lines» – Live @ Jazzfestival Viersen 2005 »
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