25. Mai 2012

DOSSIER: BOB MARLEY – Porträt

Bob Marley oder die Kluft zwischen Pop- und Subkultur

35 Jahre nach Erscheinen seines Albums «Exodus» ist Bob Marley nicht nur immer noch der grösste Reggae-Star aller Zeiten – er ist auch eine weltweite Inspiration im Kampf gegen die soziale Ungerechtigkeit geblieben. Trotz der mitreissenden Liebeserklärung des Regissuers Kevin McDonald mit der Dokumentation «Marley»: der Superstar hat dem Reggae nicht nur geholfen…

Von Hanspeter Künzler
Bild: © Magnolia Pictures

Es ist ein fürwahr kurioser Sachverhalt, dass die Platten, die Bob Marley zuerst mit, dann ohne die Wailers, an die vorderste Front des popmusikalischen Heldentums beförderten, bei ihrem Erscheinen von der Reggae-Szene selber, die sie hervorgebracht hatte, kaum angehört, höchstens aus der Ferne respektiert wurden. In der Tat gibt es noch heute Puristen, die argumentieren, dass Reggae-Alben eine Pervertierung der Musik darstellten, dass das wahre Medium des Reggae die Single sei und bleibe.

Diese Überzeugung ist so abwegig nicht. CDs, die von einem Künstler vor dem Beginn der Aufnahmen als Alben konzipiert werden, sind heute seltener denn je. Häufiger handelt es sich bei den Alben der Stars, die in den Regalen der konventionellen Plattenläden stehen, um Sammlungen von Singles, die entweder der Künstler selber oder – genau wie in den ganz alten Tagen – ein Produzent, der ihn für die Aufnahmen angeheuert hatte, über die Monate hinweg zusammengesammelt hat.

Das englische Reggae-Label Greensleeves und das amerikanische Pendant VP Records, die in den achtziger und neunziger Jahren das Dancehall-Publikum in Europa und in den USA mit Alben von alten und neuen Stars versorgten, veröffentlichen heute vornehmlich Sammel-CDs – entweder bestehend aus Hits oder aber von verschiedenen Versionen des selben Riddims. Die Gründe für die Popularität der Single lagen in den Anfängen des Reggae ebenso auf der Hand wie heute: Ska, Bluebeat, Reggae und Ragga waren und sind in ihrer Essenz Disco-Musik. Musik also, die von den Disc Jockeys der Sound Systems in Dancehalls oder Hinterhöfen kredenzt wurde. DJs benötigten Singles, nicht Alben. In der Rockszene andererseits hatte sich just zu der Zeit, als Bluebeat und Reggae zur ersten Blüte fanden, die Überzeugung breit gemacht, dass blosse Singles höchstens für trivialen Pop gut seien. 

Mit «Pet Sounds» und «Sergeant Pepper» war man den Kinderschuhen in Single-Länge entwachsen. Die musikalische Zukunft, da waren sich alle ernsthaften Rockfans einig, lag bei ausgedehnten oder wenigstens komplizierten Kompositionen oder bei den Improvisationen des Bluesrock. Das Prinzip der individuellen Selbstverwirklichung war nun Trumpf, das Demonstrieren von virtuoser Technik war oft Selbstzweck. Jamaika ging seine Musik ganz anders an. Derweil die Sänger in ihrer Umgebung zwar Superstars mit vielen Sonderrechten – aber nicht unbedingt mit Geld in der Tasche – waren, wurden die Lieder, die sie sangen, Allgemeingut, sobald sie über ihre Lippen kamen.

Die oft grossartigen Studiomusiker, welche die Sänger auf Geheiss der Produzenten begleiteten, stellten ihre Arbeit jederzeit in den Dienst des Songs und des Beat. Hatten sie das Bedürfnis, Können zu markieren, mussten sie das auf kleinstem Raum mit knappen Details tun oder aber einen noch knackigeren Riddim austüfteln. All das war nicht dazu angetan, dem Rockpublikum zu imponieren. Dazu waren im Reggae weiterhin Gesangsduos und –Trios populär, was zumindest in Grossbritannien mit Soul gleichgesetzt wurde. Und Anfang der siebziger Jahre galt Soul in England als das uncoolste Ding überhaupt. Für die aberwitzigen Sprüche und den Humor der Toasters hatte man sowieso kein Ohr, man verstand ja kein Wort. Und die Reize des Dub lagen ebenfalls noch fernab vom Radar der Rockszene – wenn man schräge Verfremdungseffekte haben wollte, wandte man sich dem Krautrock zu.

Von «Island» zu «Island»

Chris Blackwell gehörte einer wohlbetuchten englischen Familie an, die in Jamaika lebte. Geboren 1937, startete er dort 1959 das Plattenlabel Island. Anfangs verlegte er lokalen Jazz und Gospel. Laurel Aitkens «Little Sheila» bescherte ihm den ersten Proto-Ska-Hit. 1962 zog er mit der Idee nach London, die dortigen jamaikanischen Exilanten mit der Musik ihrer Heimat zu versorgen. Den Gepflogenheiten des europäischen Marktes folgend, gab er auch einige Alben heraus – die Mehrheit der Veröffentlichungen waren aber Singles, darunter mehrere von den Wailers und eine von einem gewissen «Robert Morley».

Nach dem Erstlingsalbum von Jimmy Cliff, das 1968 erschien, konzentrierte sich Blackwell auf die Rock- und Folkszene, ohne jedoch seinen engen Kontakt zu Jamaika und zum Reggae aufzugeben. Fünf Jahre später war in ihm die Idee gekeimt, den Versuch zu wagen, Reggae dem Rockpublikum schmackhaft zu machen. Dazu brauchte er erstens eine Band – die Erfahrung mit Jimmy Cliff hatte gezeigt, dass ein einzelner Sänger nicht über das Poppublikum hinaus kam – zweitens ein Album mit Produktionswerten, die den Qualitätsansprüchen europäischer Ohren genügen konnten, und drittens musste die Band imstande sein, wie eine Rockband auf Tournee zu gehen.

Blackwell hat nie bestritten, dass er auf der Suche nach geeigneten Künstlern nicht zuerst bei den Wailers anklopfte, die den Ruf hatten, wahre und alles andere als pflegeleichte Rude Boys zu sein. Es war denn Marley, der eines Tages im Studio von Island Records erschien, um seinen alten Boss um Rat zu bitten. Die Wailers hegten durchaus internationale Ambitionen. Aber die flaue, bei CBS erschienene Single «Reggae On Broadway» hatte aus verständlichen Gründen keine Wellen geschlagen. Blackwell nahm die Wailers unter Vertrag. Das Trio mit Bob Marley, Peter Tosh und Bunny Livingston hatte im Studio schon längere Zeit mit dem Bass/Drum-Team aus dem Studio von Lee «Scratch» Perry zusammengearbeitet – zusammen mit dem Organisten Earl «Wiro» Lindo wurden Aston «Family Man» Barrett und Carlton Barrett zu Mitgliedern der festen Band erhoben.

Den Rockgesetzen gehorchend

Die Gruppe nahm in Jamaika einige neue Lieder sowie ein paar Evergreens aus ihrem wachsenden Archiv auf. Die Resultate wurden in London von diversen Island-Musikern, darunter dem Pianisten Rabbit Bundrick und dem Gitarristen Wayne Perkins, mit zusätzlichen Farbtupfern versehen. Diese zusätzlichen Zutaten wurden auf dem Umschlag des resultierenden Albums «Catch a Fire» wohlweislich verschwiegen. Ja, an gleicher Stelle hiess es frech und ziemlich frei «All arrangements by Bob Marley and The Wailers». Die Abmischung – ein einheitlicher Sound, der die stilistischen Unterschiede zwischen den alten Songs und den neuen ausglättete – war ebenfalls aufs Rock-Ohr zugeschnitten, das Cover – ein aufklappbares Zippo-Feuerzeug – erst recht.

Bemerkenswert ist der didaktisch klingende Klappentext, der dem Neuankömmling den Eindruck vermittelt, er habe hiermit eine militante Undergroundmusik mit Geschichte entdeckt, die perfekt neben seine Dylan- und Stones-Alben passe. «Their name, The Wailers», so stand da geschrieben, «perfectly fits this unique group from Jamaica. It describes both, their explosive musical drive and the message they bring from the ghettos of Kingston. Their songs and arrangements echo the wailings of the ghetto not only in Jamaica – but, indeed, in any ‹Concrete Jungle› anywhere…The current Wailers stand unchallenged as the leading group of the ‹Reggae› scene.»

Produzenten wichtiger als Songschreiber

Es war dies ein ziemlich kreativer Umgang mit der Situation. Die Wailers als Gesangstrio und Songschreiber hatten sich zwar in der Tat in Jamaika grosser Popularität erfreut – aber es gab etliche andere Stargruppen, die populärer waren als die Wailers – Toots & The Maytals zum Beispiel. Und die grossen Neuerer waren eher die Produzenten als die Songschreiber. Die Wailers selber waren ob «Catch A Fire» nicht begeistert. Bald würden die Originalmusiker für eine Platte gar nicht mehr gebraucht werden, habe einer während des resultierenden Streites geschrieen. Am Ende biss man doch noch in den sauren Apfel, akzeptierte das Album und ging auf Tournee. In Grossbritannien, wo «Catch a Fire» von den Rockschreibern gute Kritiken eingeheimst hatte, genossen die paar kleinen Gigs einige Beachtung. In den USA hingegen wurde man nach vier Konzerten als Vorgruppe von Sly & The Family Stone hinausgeworfen, denn dem schwarzen Publikum passte der Sound gar nicht (kein Reggae-Sound, ob altmodisch oder neu, wäre damals gut angekommen).

Der schwarze britische Autor Lloyd Bradley schreibt in seiner Reggae-Geschichte «Bass Culture» über «Catch a Fire» folgendes: «At the time it sold poorly, critical acclaim though fairly enthusiastic was largely patronizing, and as for changing the face of reggae as we knew it, it’s impossible to name a single tune cut in ‹Catch a Fire›’s wake that so much as nods towards that album. Also, again something mostly obscured by the rose-tinted mists of time, Britain’s black reggae crowds ignored it completely. They simply didn’t like it.» Die jamaikanischen Fans andererseits, das ist unschwer zu folgern, bekamen das Werk gar nicht zu hören: «Catch a Fire» klang wie keine andere Reggae-Platte und passte in keiner Weise in die Dancehalls.

Ohne Tosh und Livingston

Hingegen war den Jamaikanern nicht entgangen, dass die Wailers als erste Reggae-Künstler von einem Plattenlabel aus Übersee einen beachtlichen Geldbetrag bekommen hatten, um ihre Musik international salonfähig zu machen. Der resultierende, erhöhte Respekt wirkte sich auch auf die Rastakultur aus. Plötzlich galt das Rastafariertum als «cool». Selbst der Mittelstand begann mit dem Kult zu flirten. Das nächste Wailers-Album hiess «Burnin’» und traute dem Publikum vom Sound her bereits etwas mehr Ruppigkeit und Militanz zu. Auch enthielt es «I Shot The Sheriff», das dank Eric Claptons Version zum Welthit wurde. Aber zum Zeitpunkt des Erscheinens waren Bunny Livingston und Peter Tosh bereits ausgestiegen. Ihnen, die fast eine Dekade lang als gleichwertige Partner zum Repertoire der Wailers beigetragen hatten, passte der PR-Rummel um Marley nicht, der das Charisma zum Rockstar hatte.

Island Records sah es bestimmt nicht ungern, dass eine Band mit drei Köpfen zu einer Band mit einem einzigen, sofort identifizierbaren Charaktergesicht samt Löwenmähne geschrumpft war. Weniger war in diesem Fall zumindest in Sachen Publicity sehr viel mehr. Ohne die oft grimmig dreinblickenden Tosh und Livingston, dafür mit dem emsig fiependen Damen-Gesangstrio I-Threes, war Marley mit seinen eingängigen Völkerrechtsslogans und mysteriösen Rasta-Sprüchen, ganz zu schweigen von seinem Charme, eine äusserst süffige Bezugsperson.

Marley war der beste Botschafter, den Jamaika je haben konnte. Auch das Timing von ihm und Island Records war perfekt. Viele Rockfans – vor allem liberale Rockfans mit avantgardistischen Tendenzen – waren Mitte der siebziger Jahre stark frustriert: die Musikszene war ganz im Griff der grossen Plattenmultis, und diese förderten mit brachialer Gewalt profitträchtige Stadionrock-Bands, harmlose Singer/Songwriter, schmalzigen Soul oder Bands wie Abba. Island Records andererseits erfreute sich als unabhängiges Label ganz nach dem Geschmack von Chris Blackwell weithin grösster Bewunderung für seine Förderung von abseitigen Talenten und Neuerern wie Roxy Music, John Martyn oder Free.

Für dieses Publikum war Marley und sein Rastafariertum eine genauso willkommene Erfrischung wie Punk. In einer Zeit, in der zudem viele Jugendliche das Gefühl hatten, der europäischen Kultur gingen die spirituellen Werte verloren, suggerierten die Platten von Bob Marley einen direkten Draht zu einer vagen Art von Mystik und zu einer exotischen Welt, in der die Urkraft «Hunger» noch Teil der täglichen Realitäten war. Derweil Marley Jamaika zu einem weltweiten Sprachrohr verhalf, schenkte er seinem europäischen Publikum die Illusion, sie ein kleines bisschen näher ans Menschsein ohne die Verklemmtheiten des modernen Alltages heranrücken zu lassen. Diesem Publikum wurde Bob Marley & The Wailers zur Musik gewordenen Naturheilquelle.

Die europäischen – nicht aber die amerikanischen – Plattenfirmen rochen bald Lunte. Sowohl Island als auch die neue Firma Virgin lancierten ein intensives Reggae-Programm. Die Vielfalt der Veröffentlichungen war enorm. Es kamen keineswegs nur Marley-Clones auf den Markt. Virgin zum Beispiel versuchte es auch mit den Toasters I-Roy, U-Roy und Tapper Zukie sowie mit den herrlichen jamaikanischen Dancehall-Vignetten von Johnny Clarke. Bei Island erschienen lauter Klassiker von Lee Perry, Justin Hines & The Dominoes, Max Romeo, Toots & The Maytals, Burning Spear und vielen anderen. Jedes grössere britische Label nahm nun diverse Reggae-Bands unter Vertrag, während eine Masse von unabhängigen Labels weiterhin den Hardcore-Dancehall-Markt versorgte.

Segen und Fluch

Abgesehen davon, dass man subtiler hätte vorgehen können als jeden neuen Reggae-Künstler als «den neuen Marley» anzupreisen, war es nicht unbedingt die Schuld dieser Plattenfirmen, dass das Publikum vom breiten Angebot wenig Gebrauch machte. Island Records unterstützte Reggae noch weit in die achtziger Jahre hinein und veröffentlichte immer wieder Meilensteine. Virgin kehrte der Musik den Rücken, als man nach einer Regierungskrise in Nigeria das ins dort florierende Reggae-Geschäft investierte Geld verlor. Angesichts der bescheidenen Verkaufszahlen vieler Reggae-Alben – Dancehall-Fans kauften ja immer noch lieber Singles oder gar Maxi-Singles – war es den anderen Firmen nicht zu verübeln, dass sie den Reggae aufgaben. Viele jamaikanische Reggaekünstler erholten sich von dem Frust nie. Sie fühlten sich verschaukelt, sangen künftig nur noch fürs loyale Lokalpublikum und erzählten ihren Enkeln böse Geschichten über das babylonische Musikgeschäft.

Die Marley-PR-Kampagne von Island Records hatte nur allzu gut funktioniert. Ausserhalb der eigentlichen Reggae-Zentren herrschte spätestens nach dem Erscheinen von «Exodus» vor genau dreissig Jahren der Eindruck, Bob Marley repräsentiere den einsamen künstlerischen Höhepunkt des Reggae. Weil die Produktion von Marleys Alben dermassen gekonnt auf die Hörgewohnheiten des Rockpublikums einging, meinten viele, beim Anhören etwa von Gregory Isaacs’s minimalistisch instrumentierten Liebesliedern inferiore Ware vorgesetzt zu bekommen.

Und weil Marleys militant zur Schau gestelltes Rastatum als Gütesiegel des authentischen Reggae erachtet wurde, galt umgekehrt das Vorurteil, dass ein Sänger ohne Dreadlocks nicht das «echte» Jamaika vertrat. Einer, der zwar Dreadlocks trug, doch aber vorzugsweise Liebeslieder zum Besten gab, wurde schnell als opportunistischer Schlagersänger abgetan. Damit war den jamaikanischen Musikern eine neue Zwangsjacke umgelegt worden: nur militante Rastas wurden akzeptiert – ein verliebter Rasta war suspekt. Das führte zu bizarren Situationen. Zum Beispiel zu jener, dass Sänger wie Dennis Brown, Gregory Isaacs, Freddy McGregor, Erroll Dunkley und Sugar Minott, die in den Reggae-Dancehalls von Jamaika, London und New York absolute Superstars waren, vom Marley-Publikum kaum beachtet wurden. Oder, dass englische Reggae-Bands auf dem europäischen Kontinent vorgeben mussten, aus Jamaika zu stammen, ansonsten sie nicht engagiert worden wären. «Es war schon ein komisches Gefühl», erklärte mir der englische Toaster Pato Banton noch in den späten achtziger Jahren. «Dass wir nach all dem, was wir in England erreicht hatten, Jamaikaner sein mussten, wenn wir nach Holland auf Tournee gingen!»

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Marley. USA/UK 2012. Regie: Kevin Macdonald. Kamera: Alwin Küchler und Mike Eley. Mit: Bob Marley, Ziggy Marley, Rita Marley, Lee Perry, Jimmy Cliff, Bunny Wailer.

«Marley» Trailer »

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