24. Juli 2009
Kolumne von Hanspeter Künzler, London

Fünfzig sei das neue Vierzig, heisst es

Man sei nur so alt wie man sich fühle, lautet ein geflügeltes Wort, das in den letzten Jahren dermassen überstrapaziert worden ist, dass es unterdessen vor lauter Erschöpfung kaum mehr vom Boden abheben kann. Gottseidank haben sich fündige PR-Leute im Dienste des Verkaufes von einem fortgeschrittenen Alter als wünschbarem Zustand vor einiger Zeit einen neuen Spruch einfallen lassen, einen ziemlich flexiblen sogar: Fünfzig sei das neue Vierzig heisst es da. Oder auch: Sechzig das neue Fünfzig. Die britischen Medien sind ganz  begeistert von dieser neuen Einsicht und drucken reihenweise Fotostrecken ab mit bunten Kleidern für 70jährige, die sich fühlen wie ganz junge 60jährige. Als ob Farben im Alter vorher verboten gewesen wären!

Immerhin hat die Maxime erfreulich viel Platz für grosszügige Ausnahmen. In gewissen Fällen – bei mir zum Beispiel – ist ja Fünfzig eher das neue Dreissig. Andererseits kenne ich den einen oder anderen 20jährigen, der daher kommt wie ein 50jähriger. Und all diese penetrant lauten Teenager mit ihren Halbmasthosen und amerikanischen Kraftausdrücken können mit der Maxime mühelos zum quengelnden Kleinkind reduziert werden: sechzehn, das neue sechs.

Vielleicht hängt es mit der allgemeinen Angst über die Zukunft der staatlichen Altersversorgung zusammen. Oder mit einem gemeinschaftlichen Versuch der Modeindustrie, ihren potentiellen Markt nach hinten hinaus auszudehnen, jetzt, wo die Kundengruppe der Erst- und Zweitklässler bis zum Sättigungspunkt mit moralisch dubiosen «I’m so sexy»-T-Shirts ausgerüstet worden ist. Oder ist es ein Feldexperiment der Psychiatrie, ein Versuch, die Welt endlich von der galoppierenden Jungsucht zu befreien? Mick Jagger sei Dank – sportliche Rentner gehören heute in Fitnesszentren, auf Rock’n’Roll-Bühnen und sogar im Trend-Klub zum Alltag; tja, und wenn sogar der doch ziemlich schrumpelige Ronnie Wood mit seinen 62 Jahren jetzt erst zu einer Midlife Crisis samt energischem osteuropäischen Girlfriend ansetzen kann, dann dürfen wir Jungen uns alle erst noch auf die Pubertät freuen.

So oder so haben in letzter Zeit etliche rüstige britische Oldies sich auf amüsante und auch etwas beruhigende Weise mit dem Älterwerden auseinandergesetzt. So hat der smarte Schriftsteller Julian Barnes letzthin das Buch Nothing to be Frightened of vorgelegt, gemäss eigener Website «an exploration of death, religion and family». Ich glaube, die geneigte LeserInnenschaft wird mir beipflichten, wenn ich behaupte, der Spruch verspreche nicht unbedingt ein süffiges Leseerlebnis fürs Nachttischchen. In der Tat hat mich die Lektüre ein paar Mal um etliche Stunden Schlaf gebracht. Denn irgendwie bringt es Barnes fertig, seine sanft-witzigen Ausführungen über die Todesgedanken eines Atheisten so darzulegen, dass es einem ganz warm wird in der Brust. Höchst ergötzlich ist insbesondere sein Kunstgriff, die eigenen Gedanken zum Thema mit Zitaten von seinem Bruder – einem Philosophieprofessor in Genf – zu spicken, der natürlich immer und jedes Mal völlig anderer Ansicht ist.

Ein ganz anderes Werk versteckt sich hinter dem ebenfalls nicht gerade beschwingten Titel Somewhere Towards the End. Es ist dies eine überaus muntere Lebensschau, mittels welcher die frühere Verlagslektorin Diana Athill gleichzeitig eine (Zwischen-)Bilanz zieht und von der Warte einer 89jährigen aus den Umgang mit dem Alter beschreibt. Literaturfans dürfen sich ob ein paar böser Kommentare über den zutiefst absurden Elias Canetti freuen.

Athill hat ihre restlichen Erinnerungen an den Job, den sie erst 1993 im Alter von 75 Jahren aufgab, bereits früher im ebenfalls ergötzlichen Band Stet abgehandelt. In Somewhere Towards the End nun geht es eher um die Erinnerungen an ihr emotionales und vor allem sexuelles Leben, auf das sie ohne jedes Bedauern und mit viel Verständnis für allerhand Partner zurückzublicken vermag. Auch sie hält wenig von Bibelsprüchen und Beerdigungspredigten und lässt nur selten das Gefühl anklingen, dass sie des Alters wegen gewisse Dinge nicht mehr tun kann. Wenn sie doch einmal einen Hauch von Traurigkeit aufkommen lässt, dann in unerwarteten und gerade deswegen umso prägnanteren Momenten. Dann zum Beispiel, wenn sie sich eingesteht, dass es zu spät wäre, sich einen jungen Hund anzuschaffen: sie könnte mit dessen jugendlichem Galopp beim Spaziergang auf der Hampstead Heath nicht schritthalten, und ausserdem würde der Hund wohl bald allein dastehen.

Beide Bücher – das von Barnes und das von Athill – sind erstaunlich muntere Versuche, eine Gehhilfe zu liefern für den Umgang mit der eigenen Sterblichkeit von urbanen Bewohnern des 21. Jahrhunderts, die sich nicht mit Kirchenbänken und Gospelgesängen herumschlagen möchten oder können. Und noch ein Buch: Falling & Laughing von Grace Maxwell. Grace Maxwell ist die Partnerin von Edwyn Collins, dem smarten schottischen Popstar, der einmal die Band Orange Juice führte, von dem Franz Ferdinand so viel abgeschaut haben, und der dank dem Welthit A Girl Like You eigentlich nie mehr hätte arbeiten müssen. Im Februar 2005 erlitt Collins einen Schlaganfall. Er schwebte in akuter Lebensgefahr, war danach auf der rechten Körperseite gelähmt, litt an Aphasie – und dann zog er sich im Spital auch noch eine gefährliche Infektion zu. Die Ärzte befürchteten das Schlimmste und liessen in ihren Prognosen wenig Raum für Optimismus offen. Auch nicht gerade eine Ausgangslage, die ein heiteres Buch verspricht, oder? Nun, im Gegensatz zu Grace Maxwell am Anfang der Geschehnisse, geht der Leser das Buch im Wissen an, dass Collins unterdessen wieder gehen und reden kann und sogar schon eine Konzerttournee unternommen hat. So entpuppt es sich als eine erfrischende Chronik der kleinen Therapieschritte und der grossen Kämpfe mit kafkaesken Krankenhauszuständen (ironischerweise waren diese in der privaten Station schlimmer als in der öffentlichen!). Als Sympathisant von Aussenseiterkämpfen freut man sich insbesondere darüber, wie es gerade Collins’ angeborene Rebellen- und Trotztendenzen zu sein scheinen, die in ihm einen unbändigen Überlebenswillen geschürt haben, einfach um die Ärzte und Autoritäten zu provozieren.

So. Nach diesen drei Büchern fühle ich mich gerüstet auf den nächsten garstigen Geburtstag. Aber eben, auch ich bin ja doch nur so alt, wie ich mich fühle.

Hanspeter Künzler

(Diese Kolumne erschien erstmals in TheTitle Nr. 26 / 24.7.2009)

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