21. Dezember 2009

dossier: VOM LESEN DANACH

Tropfendes Wasser und berstende Leitungen

Insgesamt fast dreitausend Seiten, die uns die Welt erklären: «2666» und «Unendlicher Spass», Bolaño und Wallace. Gewaltig! Ein Lesebericht. Es war ein grosser Bücherherbst. Ein sehr grosser sogar. Wir wurden in einem Masse mit Weltliteratur beschenkt wie kaum je zuvor. Grosse Bücher erklären uns die Welt und genau dies tun «2666» von Robert Bolaño und «Unendlicher Spass» von David Foster Wallace. Beide sind sie in ihren deutschen Übersetzungen zu Bestsellern geworden. Und keiner der Autoren durfte dies noch erleben: Bolaño starb 2003, Wallace nahm sich 2008 das Leben.

Von Rudolf Amstutz

Wie hat man sie uns eingetrichtert, diese grossen Werke der Literatur. Jene Meisterwerke, auf deren Lektüre man nicht verzichten könne. Jene Bücher, in denen mehr drin steht, als bloss eine Erzählung. Ansätze zur Erklärung der Welt, in der wir leben. Fundamentale Einsichten zur menschlichen Existenz. Vielleicht sogar der Sinn des Lebens.

Wir durften – und in vielen Fällen mussten – uns durch die Grossmacht des geschriebenen Wortes lesen. Lernten durch «Faust» den Teufel kennen, litten mit «Werther», mühten uns gemeinsam mit Thomas Mann auf den «Zauberberg», trommelten die «Blechtrommel mit Grass’ Oskar Matzerath (und scheiterten dann kläglich an «Der Butt»), suchten Hand in Hand mit Proust die verlorene Zeit, versuchten die Eigenschaftslosigkeit von Musils Mann zu ergründen, litten uns mit Josef K durch den «Prozess», jagten mit Melville «Moby Dick» und stehen noch heute verzweifelt vor einem «Ulysses», dessen zwei- und dreideutige Sprachspielereien sich der konsequenten Übersetzung widersetzen, so dass uns der von Joyce geschilderte Tag im Leben des Leopold Bloom wohl in seiner ganzen Dimension immer verschlossen sein wird.

Aber der Grossteil all dieser Werke und die Dutzenden mehr, die es noch aufzuzählen gäbe, wurden geschrieben, als die Mehrheit der heute lebenden Menschen noch gar nicht das Licht der Welt erblickte. Weshalb, so fragte man sich, muss man eigentlich immer den kanonisierten Rat der Ältesten befragen, um Antworten auf die Welt zu erhalten. Und nun, so scheint es, haben wir endlich auch unsere Weltliteratur. Bolaño hat Jahrgang 1953, Wallace 1962. Und ihre Werke lassen sich nun endlich auch auf deutsch entdecken.

Zum Glück ist dieser Joycesche Widerstand der Sprache, sich partout nicht in eine andere übertragen zu wollen, im Falle von Roberto Bolaño nicht gegeben. Bei David Foster Wallace brauchte es allerdings schon eine fast unmenschliche Leistung eines Übersetzers, um diesen aus scheinbar Milliarden von Wörtern bestehenden literarischen Urknall zu dechiffrieren.??Beides sind sie im wahrsten Sinne des Wortes gewichtig: «2666» ist 1'200 Seiten dick, «Unendlicher Spass» gar 1'500 Seiten. Und beide stehen sie für den Kulminationspunkt des jeweiligen Gesamtwerkes der beiden Autoren, als ein Teil einer grossen Vision, eines Dranges, anhand von Literatur die Welt erklären zu wollen. «Gut zu schreiben», sagte Bolaño einmal, «bedeutet, dass man fähig ist, seinen Kopf ins Dunkel zu stecken, ins Leere zu springen.» Literatur, so Bolaño weiter, sei ein gefährlicher Beruf. Der Autor setzt sich aufs Spiel, um an jenen Punkt vorzustossen, an dem er die Antworten auf seine Fragen zu finden hofft. Beide – Bolaño und Wallace – bezahlten diese Suche letztlich mit dem Leben. Beim Chilenen war es die Leber, die nicht mehr wollte. Bei Wallace, seit Kindheit schwer depressiv, war es der Wunsch, sich vom Dämonen zu befreien: glücklich verheiratet, setzte er nach Jahrzehnten medikamentöser Behandlung seine Antidepressiva ab. Die gefundene Liebe seines Lebens, so dachte er, würde ihm genügend Licht in der Finsternis der Erkenntnis verschaffen. Wallace hatte sich getäuscht. Als seine Frau am 12. September 2008 nur kurz wegging, um ein paar Besorgungen zu machen, hat er sich erhängt.

Wie Franz Kafka, für beide Autoren ein bedeutsamer Einfluss, wussten auch sie, dass sie sterben würden. Bolaño war 2003 noch zu unbekannt, als dass er auf der Warteliste für eine Lebertransplantation einen höheren Platz hätte einnehmen können. Und Wallace bekämpfte im Grunde genommen seit seiner Kindheit den drohenden Abgang. Selbst in glücklichen Zeiten der Schwermut ausgeliefert zu sein, hiess aber auch: sich in einem Widerspruch zu befinden, der letztlich einen gewichtigen Teil zu seiner literarischen Arbeit beigetragen hat.??

Wie bei vielen Büchern, die mehr wollen, als bloss Geschichten erzählen, sind auch hier die Handlungsstränge bloss Mittel zum Zweck. Der Autor schliesst auf seiner ewigen Suche einmal mehr die Augen und lässt sich ins Leere fallen. Die Geschichten erfindet er, um uns auf seine Reise mitnehmen zu können. Je mehr wir gewillt sind, uns in sein Buch fallenzulassen, umso mehr werden wir erfahren.??

«2666» besteht aus fünf einzelnen Teilen, die anfänglich nichts miteinander zu tun haben. Erst im Laufe der Lektüre verfangen sich die Teile zu einem Ganzen. Es tauchen gar Orte und Figuren aus vergangenen Werken Bolaños auf. Die Literatur als Fuge, als Variation des immer selben Themas. Bei Bolaño geht es immer um die Literatur selbst, um geheimnisvolle Morde, um Totalitarismus. Für den gebürtigen Chilenen, der in Mexiko aufwuchs, danach in sein Heimatland zurückkehrte, verhaftet wurde und später in Barcelona seine neue Heimat fand, ist das Böse schlechthin allgegenwärtig. Ob er wie Borges sich in eine magische Welt flüchtet oder wie Kafka die Untiefen des Machtapparates auslotet: die brutalen Kapitel der Menschheit des 20. Jahrhunderts umkreisen seine Protagonisten wie ein tiefer schwarzer Schlund. Und Bolaño kann seinen Schreibstil von Fall zu Fall ändern, wie ein Chamäleon verbirgt sich der Autor in seinem eigenen Werk und lässt seine Figuren einen Tanz vorführen, der immer wieder zu neuen Konstellationen führt. Und in diesen Bildern dann, setzt sich für den Leser langsam eine Erkentnis durch, eine manchmal nur kurz andauernde Mitwisserschaft, in der er die Welt durch die Augen des Autors betrachten kann.??

Es ist nichts Neues: je mehr man weiss, desto weniger weiss man. Mit jedem Mosaikstein, mit dem man sein Wissen ergänzt, entsteht eine neue Dynamik der einzelnen Teile. Das Hirn vernetzt die Informationen und daraus entstehen immer neue Fragen. Das kann man so weit führen, dass unsere interne Festplatte überhitzt. So ähnlich stellt man sich das Ende von David Foster Wallace vor. Obwohl: «Infinite Jest», die amerikanische Originalausgabe von «Unendlicher Spass», erschien bereits 1996, also zwölf Jahre vor seinem Tod. Der Roman ist also nicht eine postume Veröffentlichung, wie dies bei Bolaño mit den meisten seiner Werke der Fall ist. Doch mit der Erkenntnis des Schicksals von Wallace und mit dem Wissen, dass gerade dieser Autor so sehr eins war mit seinem literarischen Werk, lesen sich die Bücher von Wallace nun anders. Im kleinen und sehr empfehlenswerten Begleitbüchlein zu «Unendlicher Spass» schildern seine Freunde, die Schriftsteller Jonathan Franzen und Dave Eggers, denn auch, dass Wallace nach Erscheinen seines grossen Romans eine gewisse Erschöpfung nicht verbergen konnte. Zudem war er plötzlich der neue Star am Bücherhimmel und der Ruhm trug ebenfalls nicht zu seinem Wohlbefinden bei.??

Im Gegensatz zu Bolaño, der mit einer klaren, fast systematisch anmutenden Sprache leicht zu lesen ist, wirkt «Unendlicher Spass» wie ein aus Wörtern bestehender Tsunami. Vergliche man den jeweiligen Sprachstil der beiden anhand einer lecken Wasserleitung, so tropft es im Falle von Bolaño an verschiedenen Stellen zwar leicht aber unaufhörlich, aber doch für den Bewohner des Hauses übersichtlich, während bei Wallace das Rohr zuerst zu poltern beginnt, dann furchterregenden Lärm von sich gibt, um dann an einer einzigen Stelle zu bersten und das Haus zu überfluten.??

«Unendlicher Spass» ist ein gefährliches Buch. Nicht, weil es von der totalen Perversion unserer Gesellschaft handelt, in denen ein Film, der dem Buch den Titel gegeben hat, Menschen in einen komatösen Verblödungszustand versetzt, Schlagersänger US- Präsidenten werden können oder die Drogenheilanstalt gleich neben der Tennis-Akademie liegt. Es ist ein gefährliches Buch, weil es mit seinen unendlich langen Sätzen, den ungebändigten Sprachverschachtelungen und den unzähligen Nebenabhandlungen via Fussnoten den Leser wie ein Sog förmlich in die geschilderte Welt hineinzieht. Wer lesen will, muss fühlen. Und das Buch funktioniert wie eine Droge: zu Beginn rümpft man die Nase ob der 1'500 Seiten, die ersten Versuche schmecken schal, aber wecken die Neugier und ehe man sich es versieht, wird man in den Schlund hineingesogen und die Wörter und Sätze und Eindrücke umspülen einen, als würde man mit dem Kopf in ein Wasserbecken gestossen, als würde man direkt neben der geborstenen Leitung stehen. Und in dieser alle Dämme brechenden Flut verbirgt sich eine chirurgisch präzise Kritik des traurigen Clowns Wallace an unserer Kultur, die – unaufhaltsam in ihrer Potenzierung – damit droht, dass wir uns am Ende zu Tode lachen werden. Und zwar so rasch, dass zum Weinen keine Zeit mehr bleiben wird.

Man kann sich beim Lesen von «Unendlicher Spass» nur vage vorstellen, was dies für den Übersetzer Ulrich Blumenbach bedeutet hat, als er sich sechs Jahre lang mit diesem Werk auseinandersetzen musste. Am Ende des Buches verbeugt man sich vor diesem Kraftakt. Und man ist glücklich. Nicht weil man sich selbst loben will, ob der abgetragenen Arbeit von 1'500 Seiten. Nein. Man fühlt sich befreit. Wie Menschen, die über glühende Kohlen gingen. Oder in eiskaltem Wasser geschwommen sind. Nach der Lektüre von «Unendlicher Spass» sei man ein besserer Mensch, sagt Dave Eggers. Er hat recht. Und man kann getrost die selbe Aussage auch für Bolaños «2666» verwenden.

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